Tim Herden

Toter Kerl


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Kirchweg, die Hauptstraße von Kloster. Der Begriff Hauptstraße war allerdings für den ungepflasterten, mit Schlaglöchern übersäten Weg vom Friedhof bis zum Inselmuseum eigentlich nicht angebracht. Damp hatte im Hafen mit den Vorbereitungen für die Ankunft der vielen Gäste zu tun und stritt sich dort außerdem mit den Vermietern von Ferienwohnungen herum, die ihre Gepäckwagen nicht wegräumen wollten. So eilte Rieder zur Kirche, um dort die Gemüter zu beruhigen. „Scheißorganisation! Wo ist Damp?“, riefen ihm die Kutscher schon zu, als er von der neuen Pension „Zur Post“ kommend auf den Kirchweg einbog. Dort standen ein Dutzend Planwagen, immer drei nebeneinander. Die Leute kamen weder rechts noch links und schon gar nicht „mittenmang“ durch. Klaus Treue, ein Fuhrunternehmer aus Neuendorf und eher ein friedlicher Typ, kam auf den Polizisten zu.

      „Hallo, Rieder, verstehen Sie uns nicht falsch, aber wir müssen auch unser Geschäft machen können.“ Rieder kramte eine Skizze hervor, die Damp ihm gegeben hatte und auf der der Standplatz des Übertragungswagens eingetragen war, sowie ein Protokoll, in dem sich die Fuhrleute, die Fernsehfirma und Damp schriftlich über die Platzverteilung geeinigt hatten. Statt längs zur Kirche, wie auf der Zeichnung vermerkt, parkte der riesige Übertragungswagen quer über den Platz und hatte nach rechts und links noch kleine Container ausgefahren. Jedenfalls war so kein Platz mehr für die Fuhrwerke, um dort zu wenden. Dicke rote Kabel waren von dem Fahrzeug zur Kirche gezogen worden. Mehrere Männer in dunkelblauen Jacken mit dem Symbol ihres Fernsehsenders auf dem Rücken waren damit beschäftigt, Scheinwerfer und Fernsehkameras zum Gotteshaus zu tragen. Andere saßen auf Campingstühlen um einen kleinen Klapptisch. Alle hatten Papier und Stift in der Hand und hörten aufmerksam einer Frau mit roten Haaren zu.

      Rieder hatte sich durch die wütenden Fuhrleute nach vorn gearbeitet. „Oh, der Berliner persönlich“, war ihm nachgerufen worden. „Scheint ja ’ne Chefsache zu werden.“

      Rieder wusste, jetzt ging es für ihn ums Ganze. Jetzt würde sich entscheiden, ob er in den Augen der Insulaner Kerl oder Weichei war.

      Er marschierte hinüber zu den Fernsehleuten. Die Frau mit den roten Haaren schien ihm hier die Chefin zu sein. Als Rieder sich vorgestellt hatte, nahm sie die halbe Brille ab und musterte den Mann in Jeans, T-Shirt, grüner Windjacke und Baseballkappe von unten bis oben.

      „Sie sind also der Inselpolizist?“, stellte sie zweifelnd fest. „Ihr Name ist mir neu. Ich habe immer mit einem Herrn Damp verhandelt.“

      Rieder nickte. „Der hat an anderer Stelle zu tun. Ich kümmere mich heute hier um die Vorbereitungen an der Kirche. Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?“

      Langsam stand die Frau aus ihrem Campingstuhl auf und streckte dann, geradezu graziös, Rieder die Hand entgegen. „Carmen von Kreuznach. Ich bin die Regisseurin der morgigen Sendung. Und das“, sagte sie darauf mit einer ausschweifenden Bewegung über die Männer am Tisch, „sind meine Kameramänner. Wir machen gerade eine Regiebesprechung.“ Ihr Ton drückte deutlich aus, dass sie sich durch Rieder gestört fühlte.

      „Ich will mich nicht lange mit der Vorrede aufhalten, aber so geht es nicht.“

      „Was meinen Sie?“

      Rieder tippte auf das Protokoll und die Zeichnung.

      „Wir hatten erstens mit einem kleineren Ü-Wagen gerechnet und zweitens sollte er längs zur Kirche stehen und hier nicht den ganzen Platz blockieren. Und daran müssen Sie sich bitte halten.“

      Die Regisseurin zog die Mundwinkel nach unten und bedachte den Polizisten mit einem Blick, als ob er nicht ganz bei Trost wäre.

      „Guter Mann“, rief sie mit Emphase aus, „das ist unmöglich! Schauen Sie, wie weit wir schon mit der Verkabelung sind. Und meinen Sie wirklich, Sie können das einschätzen, was man für eine richtig gute Fernsehübertragung braucht?“ Frau von Kreuznach warf die Haare zurück, stemmte eine Hand in die Hüften und wies mit der anderen auf das Papier in Rieders Hand. „Diese Planung mit dem kleinen Ü-Wagen, der nur drei Kameras an Bord hat“ – sie machte eine Pause, als wollte sie abwarten, ob Rieder ihre Worte auch verstanden hätte – „diese Planung war völlig inakzeptabel. Ich bitte Sie!“ Dann deutete sie in Richtung der Kirche. „Dieses Juwel muss doch richtig in Szene gesetzt werden.“ Wieder eine Pause. „Also unter sechs Kameras geht da gar nichts. Und dazu braucht man eben auch so ein Fahrzeug.“ Dann beugte sie sich ganz nah an Rieders Gesicht und flüsterte ihm verschwörerisch zu: „Äh, diese Fuhrleute. Die werden auch mal einen Tag zu Hause bleiben können.“ Sie drehte sich noch einmal um, um sich zu versichern, dass auch keiner der Umstehenden ihre Worte hörte. „Mal ganz unter uns, können Sie nicht was machen, dass die verschwinden? Sie verderben mir den schönen Außenschuss.“

      Rieder trat einen Schritt zurück und wollte gerade antworten, da tauchte hinter dem Übertragungswagen der Arm eines Krans auf, der sich immer weiter in die Höhe schob. Er hatte dieses zweite Fahrzeug hinter dem Übertragungswagen gar nicht gesehen. Am Ende des Kranarms hing eine kleine Gondel mit einer Kamera.

      „Was ist das?“, fragte er empört.

      „Unser Steiger … eh, Kamerakran“, erklärte Frau von Kreuznach mit unschuldiger Miene. „Hatten wir das vergessen zu sagen?“

      Rieder bekam einen richtigen Wutanfall.

      „Den können Sie gleich einklappen. Oder hat der eine Genehmigung zum Befahren von Hiddensee?“

      „Äh, die Kollegen von der Fähre waren so nett …“

      „Okay, einklappen, wegfahren zur Fähre und zurück nach Schap­rode.“

      Frau von Kreuznach war die Farbe aus dem Gesicht gewichen. Mit schriller Stimme schrie sie: „Was bilden Sie sich eigentlich ein! Ich werde sofort meinen Direktor informieren und dann läuft das über den Minister und …“

      „Okay, bis der Minister entschieden hat oder wer sonst, entscheide ich. Entsprechend der Absprachen und des Protokolls, das Ihre Unterschrift trägt.“ Die hatte Rieder noch rechtzeitig auf dem Protokoll entdeckt. „Also, Kran zurück zur Fähre und dann nach Rügen. Und der Ü-Wagen wird umgeparkt. Sofort!“

      „Aber die Kabelwege …“, versuchte die Regisseurin einen letzten Widerstand. Doch Rieder fiel ihr ins Wort: „… sind auch nicht länger, wenn Sie umparken, wahrscheinlich sogar kürzer. Bis Morgen ist noch viel Zeit.“

      Pfarrer Schneider hatte die Debatte zwischen Rieder und der Regisseurin aus einiger Entfernung beobachtet. Doch nun hatte Frau Kreuznach ihn entdeckt und stürzte auf ihn zu. Schneider war schlank und hatte ein etwas pausbäckiges Gesicht. Sein dünnes mittellanges Haar war etwas strähnig und er hatte es zurückgekämmt. Wie immer trug er ein schwarzes Hemd und eine schwarze Jeans. Da er immer den Kopf leicht vorbeugte, wirkte er in seiner schwarzen Kleidung wie ein Rabe. Er schaute über seine kleine runde Brille, als wollte er genauer wissen, was dort passiert war. Doch noch ehe die Regisseurin ihn erreichte hatte, drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten auf die Kirche zu und verschwand darin. Frau von Kreuznach blieb daraufhin stehen. Eine junge Frau war gerade aus der Kirche gekommen, ebenfalls in einer Jacke wie alle anderen Mitarbeiter des Fernsehteams und mit einem Klemmbrett unterm Arm. Rieder nahm an, dass es sich dabei um die Aufnahmeleiterin handelte, die hier vor Ort alles für die Fernsehleute organisieren musste und nun in ihr Unglück gelaufen war. Denn die Regisseurin ging mit lautem Geschrei und erhobenen Händen auf die junge Frau los. Er befürchtete schon, dazwischengehen zu müssen. Aber es blieb bei lautem Kreischen und leisen Rechtfertigungen. Als er sich umdrehte, hatten auch die Kameramänner die Köpfe eingezogen, einige allerdings mit verschmitztem Grinsen. Zur Linken hatten die Fuhrleute ein Freudengeheul angestimmt und zeigten mit erhobenen Daumen in Rieders Richtung. Das war für ihn ein Sieg auf ganzer Linie gewesen.

      Danach war Rieder in die Kirche gegangen. Pfarrer Schneider hatte sich hinter den kleinen Verkaufstisch gesetzt, an dem kleine Mönche aus Ton, eine blaue Kachel mit einer aufgemalten Rosenblüte und Postkarten von Hiddensee angeboten wurden, alles Eigenproduktionen der Kirchengemeinde, um Geld für dringende Sanierungsarbeiten zu sammeln.

      „Herr Schneider“, sprach Rieder den Pfarrer an, „es tut mir leid, dass …“

      Aber