vom Tisch geflogen.
Mit dieser Wut im Bauch marschierte er zum Fahrkartenschalter und reihte sich in die Schlange ein. Immer wieder ging sein unruhiger Blick auf die Uhr an der Wand. Noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt und noch knapp ein Dutzend Leute vor ihm. Er war nicht der Einzige, der mit seiner Geduld am Ende war. Jemand brüllte durch den Raum: „Macht mal einen zweiten Schalter auf?“ Der Ruf schien ungehört zu verhallen. Dann schob sich aber doch noch in Zeitlupe und mit Kaffeetasse in der Hand eine Angestellte aus einem Nebenraum, stellte die Tasse betont langsam an einem zweiten Schalter ab, setzte sich und winkte den nächsten Kunden heran.
Endlich war er dran. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt.
„Ich brauche einen Frachtschein“, fauchte er die Frau am Ticketschalter an.
Sie schaute ihn ratlos an. „Wofür?“
Statt zu antworten, hielt er ihr die Skier entgegen. Sie zuckte mit den Schultern. „Skier hatten wir noch nicht.“ Sie wandte sich an ihre Nachbarin. „Petra, hatten wir schon mal Skier?“
Petra stellte ihre Arbeit ein. Verständnislos blickte sie ihre Kollegin an und schüttelte dann den Kopf. „Nö, hatten wir noch nicht.“
„Aber der Mann auf der Fähre verlangt einen Frachtschein“, versuchte er den Vorgang zu beschleunigen. „Die Skier seien ein Fortbewegungsmittel.“
„Ach so“, meinte nun die Frau, tippte in ihren Computer etwas ein und stoppte dann aber wieder. „Petra, meinst du Fahrrad- oder Handwagenkarte.“
Jetzt zuckte Petra mit den Schultern.
„Ich nehme die teurere, dann bin ich auf der sicheren Seite“, schlug er völlig entnervt vor.
„Also Fahrradkarte.“
Er hatte im Inneren der Fähre weder einen Sitzplatz noch einen Stehplatz gefunden. Er stand mit einigen anderen Fahrgästen auf der offenen Stellfläche für die Fahrzeuge. Er hatte sich hinter den Traktor gestellt, der immer auf der Fähre mitfuhr, um Hänger an Bord zu ziehen oder an Land zu schieben. Er versuchte, sich so ein wenig gegen den frostigen Fahrtwind zu schützen. Hinten am Heck konnte er beobachten, wie der Schiffskörper das gebrochene Eis zur Seite drängte. Die Schollen waren schon gut zehn Zentimeter dick. Als er endlich auf die Fähre gelangt war, hatten einige der anderen Gäste abfällig auf die Raketen in seinem Rucksack geblickt.
„Also ich finde es nicht gut, wenn die Ruhe im Biosphärenreservat nun auch noch durch diese Knallerei gestört wird“, ereiferte sich eine Frau so laut, dass er es hören musste. „Wir sind doch extra aus Berlin hierhergekommen, um diesem Krach zu entfliehen. Ich finde diese Knaller müssten auf Hiddensee verboten werden.“
„Mir egal“, antworte ihr Mann, „ein bisschen Feuerwerk ist doch ganz nett.“
In Vitte stürmten die Menschen von Bord. Auf dem Kai warteten Vermieter mit Handwagen und Schlitten auf ihre Gäste. Einige Passagiere gingen gezielt auf die wartenden Hiddenseer zu. Wahrscheinlich waren es Stammgäste oder Verwandte. Pferdekutschen standen bereit, um Touristen nach Kloster im Norden und nach Neuendorf im Süden zu bringen. Beide Orte wurden bei Eisgang nicht von der Reederei angefahren. Ihn beachtete keiner, als er die Fähre verließ, obwohl er auch den einen oder anderen kannte.
Er überlegte kurz, gleich die Skier auszuprobieren. Doch das Hafengelände war gut geräumt. So strömte er mit den meisten am Kai entlang, beobachtete dabei, wie sich Leute mit einem Nicken wiedererkannten, sich manche freudig in die Arme fielen, andere überrascht schienen, wen sie auf Hiddensee trafen und, wie er zu erkennen glaubte, nicht unbedingt hatten treffen wollen.
Der Deichweg war nicht geräumt. Er schnallte die Skier an, griff die Stöcke, machte ein paar gleitende Bewegungen mit jedem Fuß. Dann stieß er sich kräftig ab. Obwohl er wohl über zwanzig Jahre nicht mehr auf Skiern gestanden hatte, kam er gleich gut voran und verschwand in der Dunkelheit.
II
Malte Fittkau schreckte hoch. Das Geräusch einer Kreissäge hatte ihn geweckt. Er schaute auf seinen Wecker. Kurz nach drei Uhr. Nachts. Selbst auf Hiddensee benutzte um diese Zeit niemand eine Kreissäge. Eigentlich. Da hörte er wieder dieses hohe Kreischen. Vielleicht balgten sich zwei Kater. Aber dafür war es eigentlich zu kalt. Sein eigener grauer Kartäuser, der abends immer auf der Pirsch war und keinen Kampf scheute, um sein Revier zwischen Wiesenweg und Sprenge zu verteidigen, hatte es in den letzten Tagen vorgezogen, die Nacht vor dem warmen Ofen zu verbringen. Draußen war es einfach zu kalt.
Malte schwang sich aus dem Bett, ging zum Fenster und hob vorsichtig die Gardine. Auf der Sprenge, dem Weg hinter dem Boddendeich in Vitte, war kein Mensch zu sehen. Es war tiefe Nacht, nur durch den weißen Schnee etwas heller als sonst. Da war es wieder! Diesmal ein ganz hohes Sirren, als schneide jemand Metall. Am Ende gab es einen dumpfen Klang. Wie ein tiefer Gong. Jetzt ahnte Malte, was gerade geschah. Er riss seine Sachen vom Stuhl, sprang in seine Latzhose, zog sein Hemd und seinen dicken Wollpullover darüber. Er rannte die Treppe hinunter. Aus den Augenwinkeln sah er seinen Kater auf dem Fensterbrett sitzen, nach draußen schauen und heftig mit dem Schwanz schlagen. Auch ihn beunruhigten diese seltsamen Töne.
Malte schnappte sich seine Stiefel und die Wattejacke. Die Schapka stülpte er sich auf den Kopf. Der Kater folgte ihm bis zur Schwelle und trat dann beim ersten Kontakt seiner Pfoten mit dem Schnee den Rückzug in die warmen Gefilde des alten Reetdachhauses an.
Malte rannte durch den tiefen Schnee den Deich hinauf. Er schaute nach rechts. Wie er es erwartet hatte: Die „Caprivi“, ein alter Dampfer aus DDR-Zeiten, hatte Schlagseite. Immer mehr neigte sie sich nach Steuerbord. Wahrscheinlich hatte das Eis die stählerne Schiffshaut durchbohrt. Daher das kreischende Geräusch. Stählern war allerdings an dem alten Kahn schon lange nichts mehr. Der Rost fraß sich seit Jahren Stück für Stück durchs Schiff. Der Gong war dann das Platzen des Schiffskörpers gewesen. Nun drang Boddenwasser in das Leck ein. Malte hörte das Wasser unter der Eisfläche rauschen und glucksen. Das Schiff drohte zu sinken. Die Taue am Festmacher waren gespannt. Die Frage war nur, wer stärker war, die Hafenmauer oder die Taue. Wurden die Taue nicht gekappt, könnte auch noch ein Teil der Hafenanlage zerstört werden und sich das Wasser seinen Weg in den Deich bahnen. Würde es dort zu Eis, drohte eine Katastrophe. Das Eis konnte den Deich sprengen und dann würde sich der Bodden über die tieferen Grundstücke von Vitte ergießen.
Was tun? Malte lief hin und her. Er brauchte ein Beil, um die Taue zu zerschlagen. Warum hörte denn kein Mensch, was hier vorging? Er stürmte zurück, lief zu seinem Schuppen, riss die Tür auf und griff sich ein Beil. Dann sprintete er zum Anleger der „Caprivi“, zerschlug das Tau vorn am Bug. Knapp an seinem Kopf vorbei zischte es auf die vordere Bootsplattform. Dann rannte er zum Heck. Dort brauchte er drei Schläge, um das Tau zu kappen. Nun krängte das Schiff noch mehr aufs Eis. Malte erschrak. Die „Caprivi“ drohte seitwärts zu sinken. Doch dann blieb das Schiff plötzlich in der Bewegung stehen. Das Rauschen wurde leiser und langsam bewegte sich das Schiff wieder in Richtung Kai zurück. Malte sah es auf sich zukommen. Er wich Schritt um Schritt zurück. Das Schiff kam wieder in die Waagerechte und brach durchs Eis. Fontänen schossen nach oben. Dann sank die „Caprivi“ auf den Boden des Boddens, der hier allerdings nicht tiefer als höchstens einen Meter war. Malte war wie vom Donner gerührt. Wie erstarrt blickte er auf das gesunkene Schiff.
Vorsichtig ging er bis an die Kante des Kais. Da lag die „Caprivi“, als wäre nichts geschehen. Allerdings jetzt einen Meter tiefer. Aus der Tiefe drang wieder das Gurgeln des eindringenden Wassers. Die Eisschollen färbten sich langsam schwarz. Malte sammelte sich. Er rannte, so schnell er konnte, auf dem Deichweg vor zum Feuerwehrhaus. Dort schlug er die kleine Scheibe neben dem Tor ein und drückte den Knopf für die Sirene. Langsam begann sie zu heulen und weckte die Insel.
III
Barnhöft kam angerannt. Er knöpfte sich im Laufen noch die Uniform zu. Er stutzte, als er Malte am Feuerwehrschuppen sah. „Was soll denn das?“
„Die ‚Caprivi‘ ist gesunken“, brachte Malte japsend hervor.