wieder auf Bernd Poschau. Der schüttelte den Kopf. „Die Luke ging ganz leicht auf. Jedenfalls von außen.“
Möselbeck überprüfte die inneren Hebel an der Luke. Auch sie funktionierten ohne Probleme.
„Vielleicht war er Vögel gucken und ist dabei eingeschlafen“, meinte Poschau. „Wir mussten mit ihm ständig irgendwo hinwandern und Vögel gucken. Das nervte vielleicht.“
Möselbeck entdeckte in einer Ecke einen Rucksack. Er durchsuchte ihn. „Also Fernglas Fehlanzeige. Aber vielleicht wollte er ein Feuerwerk veranstalten.“ Er zeigte den Inhalt Barnhöft und Damp. Der Rucksack war voll mit Raketen und Böllern. „Jetzt wissen wir jedenfalls, seit wann er ungefähr hier sitzt. Mindestens drei Tage, gestern war der zweite Januar, wenn nicht sogar vier“, erklärte der Arzt. „Die Sachen waren ja wahrscheinlich für Silvester. Klar ist auch, ich stelle keinen Totenschein aus.“
IV
Damp rieb sich die Augen, nahm die Beine vom Schreibtisch und streckte sich. Sein Rücken hatte zwei Stunden unbequemen Büroschlafs unbeschadet überstanden. Sein Blick fiel auf den leeren Schreibtisch mit dem riesigen Weihnachtsstern gegenüber. Dort hatte früher Hauptkommissar Stefan Rieder gesessen. Nun lag er im Koma in einer Klinik auf der dänischen Insel Møn. Nach Auskunft von Polizeidirektor Bökemüller waren die Chancen auf ein Erwachen oder auf eine Heilung gleich null.
Damps Mitleid hielt sich in Grenzen. Er gab Rieder die Schuld, dass sie beide vor knapp drei Monaten in der Ostsee beinah ertrunken wären, hätte sie nicht die Besatzung eines dänischen Fischkutters entdeckt und gerettet.
Sie hatten eine Mörderin verfolgt. Rieder wollte nicht auf Verstärkung warten und glaubte, Damp und er würden eine Verhaftung schon zuwege bringen. Aber da hatte sich Rieder überschätzt. Mit einem Komplizen hatte die Frau die beiden Polizisten überwältigt, gefesselt, dann in ein Paddelboot gesetzt und auf das Meer hinaustreiben lassen. Rieder hatte bei ihrer Rettung durch die dänischen Fischer das Bewusstsein verloren und bis heute nicht wiedererlangt. „So dicke hätte es nun für ihn auch nicht kommen müssen“, sagte Damp leise zu sich.
Damp selbst war mit einer Unterkühlung ins Marinekrankenhaus Flensburg ausgeflogen worden. Hinzu kamen Herzprobleme, weil ihn der Komplize mit einem Elektroschocker bearbeitet hatte. Nach drei Wochen Krankenhaus hatte er noch sechs Wochenin einer Rehaklinik im Harz zugebracht. Nun war er seit knapp drei Wochen wieder im Dienst. Sofort war allen aufgefallen, dass er deutlich abgenommen hatte. Fast zwanzig Kilo. Er wog nur noch knapp zwei Zentner und fühlte sich deutlich fitter als früher. Sicher würde er sich nicht am Inselmarathon beteiligen, aber er kam nicht mehr so schnell außer Atem.
Vor seiner Rückkehr hatte Polizeidirektor Bökemüller es ihm freigestellt, seinen Dienst auf Hiddensee wieder anzutreten, nach allem, was passiert war. Aber Damp wollte zurück, obwohl ihn die Einheimischen nicht leiden konnten. Zum einen, weil er von der Nachbarinsel Rügen kam. Mit den Rüganern verband die Hiddenseer eine innige Hassliebe. Zum anderen machten sie sich über seinen penetranten Ordnungssinn lustig. Gnadenlos bestrafte er jeden mit einem Bußgeld, dessen Fahrrad nicht verkehrstüchtig war. Und das tat er oft. Immerhin war das Fahrrad hier das Hauptverkehrsmittel. Autos waren verboten, ausgenommen einige Versorgungsfahrzeuge, von denen es allerdings zu Damps Leidwesen Jahr für Jahr mehr gab. Früher hatten nur Arzt, Feuerwehr und er Anrecht auf ein Auto gehabt. Ansonsten war alles per Pferdefuhrwerk oder Fahrrad transportiert worden. Und es war auch gegangen.
Hiddensee war Damp in den vielen Jahren ans Herz gewachsen. Früher hätte er sich das nicht eingestanden. Aber während seiner Kur war ihm das klargeworden. Wenn er abends in seinem Bett gelegen hatte, war es um ihn herum still gewesen. Da hatte ihm das Rauschen des Meeres gefehlt. Das Pfeifen des Sturms in den Dünen. Das Pferdegetrappel am Morgen. Das Schreien der Möwen. Damp hatte Heimweh bekommen.
Während seiner Abwesenheit hatte ihn eine junge Beamtin aus Bergen vertreten. Nelly Blohm. Damp vermutete, dass sie gehofft hatte, er würde nicht wiederkommen und sie könne sich auf seine Stelle bewerben. Damit war es nun Essig.
Damp hatte schon der eine Tag zur Übergabe gereicht, den er mit Nelly Blohm im Revier verbringen musste. Mangels aktueller Anzeigen und Vorkommnisse war nichts zu übergeben gewesen. Den ganzen Tag hatte ihn Nelly Blohm stattdessen mit ihrem Laptop genervt, um Damp die neue Software der Polizeidirektion zu erklären. Damp interessierten diese Computerprogramme nicht die Bohne. Er musste nur wissen, wie er Formulare für eine Anzeige oder einen Bußgeldbescheid auf dem Computer öffnen, ausfüllen und absenden konnte. Im letzten Jahr hatte er außerdem seine digitalen Kenntnisse um das Lesen und Schreiben von E-Mails erweitert. Das reichte seiner Meinung nach für die Amtsgeschäfte auf der Insel Hiddensee.
Nelly Blohm hatte auch den Weihnachtsstern für Rieders Schreibtisch gekauft und ihn auf einem Deckchen platziert. Rieder hatte gemeinsam mit Nelly Blohm auf Rügen Spuren in dem verhängnisvollen Mordfall verfolgt. Damp war sich sicher, dass die beiden in dieser Zeit was miteinander gehabt haben mussten. Warum sollte sie sonst diesen Gedenkaltar errichtet haben? Andererseits hatte Rieder zur gleichen Zeit ein Verhältnis mit der Wirtin vom Strandcafé in Neuendorf gehabt. Aber das war nun wohl Geschichte. Nicht nur weil Rieder im Koma lag. Charlotte Dobbert hatte ihre Zelte auf Hiddensee abgebrochen und war nach Mallorca gezogen, um dort ein Restaurant aufzumachen. So meldete es jedenfalls der Inselfunk in Person von Malte Fittkau.
Apropos Fittkau. Damp schaute auf seine Uhr. Gleich halb neun. Kurz nach sechs hatte er Malte Fittkau vor dem Revier in Vitte getroffen. Fittkau war auf seinem täglichen Rundgang rund um Vitte gewesen. Auch heute, obwohl er in der Nacht die sinkende „Caprivi“ entdeckt hatte. Damp kam gerade unverrichteter Dinge von der Adresse in Vitte, wo der tote Martin Dehne laut Polizeicomputer gemeldet war. Aber dort wohnte niemand mehr. Das Haus war eine Baustelle. Damp hatte Malte gebeten, sich doch bei seiner Tour mal umzuhören, was man über Dehne so redete. Malte würden die Insulaner eher was erzählen als ihm, dem Polizisten. Malte traf auf seinem Weg durch den Inselort am Morgen jede Menge Leute: am Strand, im Zeitungsladen, im Supermarkt, beim Bäcker. Überall machte er einen kleinen Plausch und versorgte sich so mit den Inselneuigkeiten. Damp wartete deshalb ungeduldig auf Fittkau, um zu hören, was die Insel über den Toten zu berichten wusste.
V
Die schlanke Frau mit den braunen Locken schaute aus dem Fenster. Auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen. Es gab nicht mal Spuren im Schnee. Kein Wunder. Die Pendler, die im Westen Arbeit hatten, waren gestern sofort losgefahren, nachdem die Straßen auf Rügen frei waren und die Eisenbahn wieder fuhr. Die anderen Bewohner der Plattenbausiedlung waren Rentner oder hatten keine Arbeit. Obwohl Bergen die größte Stadt auf Rügen war, gab es wenig zu tun. Erst recht im Winter.
Nelly Blohm kam sich hier oft verloren vor. All ihre Schulfreunde waren längst nach Hamburg, Kiel oder Bremen gezogen. Der Arbeit hinterher. Nur sie war geblieben. Für eine Polizistin gab es auf Rügen eine Menge zu tun. Häusliche Gewalt, Körperverletzung, Diebstahl, Drogendelikte. Schon öfters hatte sie überlegt, sich wenigstens nach Stralsund versetzen zu lassen. Aber wie sollte sie dort als alleinstehende Mutter im Polizeidienst klarkommen. Hier hatte sie wenigstens ihre Mutter, die sich um Lukas kümmern konnte.
Gerade heute wurde ihr das bewusst. Der Vierjährige spielte auf dem Küchentisch mit seinen neuen Matchbox-Autos. Er hatte sie mit einer Polizeiwache und einer Feuerwehrstation zu Weihnachten bekommen. Immer wieder schickte er den Streifenwagen und das Krankenauto auf den Weg zu einem Unfall zwischen einem Tankwagen und einem Pkw. Dazu imitierte er mit einem leisen Summen die Sirenen. Nelly hatte einen Anruf des Stralsunder Polizeichefs bekommen. Im ersten Moment hatte sie sich gefreut. Ein ungeklärter Todesfall auf Hiddensee. Ein Toter auf einem gesunkenen alten Dampfer. Bökemüller hatte an sie gedacht, die junge Kommissarin aus Bergen. Doch der Stolz war im nächsten Moment der Sorge um Lukas gewichen. Sie würde ihren Sohn eine Weile allein lassen müssen. Es war aussichtslos, bei diesen Wetterverhältnissen jeden Abend von Hiddensee nach Bergen zurückzukommen. Sie wusste, dass der Fährverkehr seit Neujahr eingestellt war, weil die Fähre mit Motorschaden in Schaprode festlag. Natürlich hatte ihre Mutter sofort versprochen zu kommen, um sich um Lukas