Christopher Ecker

Andere Häfen


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      ZWEI KÄTZCHEN

      Kurz bevor ich zum ersten Mal straffällig wurde, brachte mein Pflegevater zwei Kätzchen mit nach Hause. Er kam in die Küche, wo wir gerade zu Abend aßen, und stellte einen zugebundenen Leinensack auf den Tisch: Darin bewegte sich etwas Lebendiges.

      „Was soll das?“, fragte meine Pflegemutter in dem Tonfall, den sie immer anschlug, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. „Nimm das dreckige Zeug vom Tisch! Wir essen zu Abend.“

      „Kätzchen“, erklärte mein Pflegevater, ohne sie anzusehen. „Ich hab’ den Jungs zwei kleine Kätzchen mitgebracht.“

      „Die brauchen keine Kätzchen! Bring sie dahin, wo du sie herhast!“

      Und so blieb der Sack ungeöffnet. Und so sahen wir nie die beiden kleinen Kätzchen. Wenige Minuten später kehrte mein Pflegevater zurück und hängte, ehe er sich zu uns an den Tisch setzte und sich ein Glas Wein einschenkte, den leeren Sack über die Lehne des freien Stuhls, auf dem bis vor wenigen Wochen Lina gesessen hatte. Wir aßen schweigend weiter. Mein Pflegevater hatte frische Kratzer auf beiden Handrücken. In der Nacht, als ich im Bett lag und meine Stiefbrüder schon schliefen, erfüllte mich plötzlich ein Gefühl, das ich anfangs nicht einordnen konnte. Aber kurz bevor ich einschlief, begriff ich, wie sehr es mich mit einer tiefen, düsteren Zufriedenheit erfüllte, dass die Kätzchen sich gewehrt hatten.

      KÜHLES GLAS

      Zu meinem Fünfzigsten erschien ein von verhaltenem Wohlwollen getragener Geburtstagsartikel in der hiesigen Lokalzeitung, etwa achtzig weitgehend kenntnisfreie Zeilen, die ein Porträtfoto verunstaltete, auf dem ich wie ein feister Hamster aussah. Am Tag danach rief sie zum ersten Mal an. Ich meldete mich, wie ich es seitdem nicht mehr tue, mit Vor- und Nachnamen, wartete eine Weile ab. Schließlich sagte eine Stimme, die ich einer jungen – und attraktiven – Frau zuordnete: „Ich wollte Ihre Stimme hören.“

      Ich versuchte, die Sache von der humoristischen Seite zu nehmen, und erwiderte lachend: „Zumindest das ist Ihnen ja jetzt gelungen!“

      „Was?“, fragte sie.

      „Was?“, fragte ich zurück.

      „Was“, sie schrie fast, „ist mir jetzt gelungen?“

      Mir wurde bewusst, dass ich die Situation weder beherrschte noch durchschaute. Ich legte die Hand flach auf die Rauputztapete, dachte nach. „Nun“, begann ich großväterlich (und fühlte mich dabei wie der fette Hamster auf dem Foto in der Zeitung), „Sie sagten mir doch eben, Sie hätten meine Stimme hören wollen. Und ich … äh … wies Sie sodann lediglich darauf hin, dass Sie sie jetzt hören.“

      Am anderen Ende der Leitung wurde leise geatmet. Dann nach einem Seufzer fragte die Frau mit leicht schneidendem Unterton: „Waren Sie 1994 mal mit einer Frau aus Trier befreundet? Bitte antworten Sie ehrlich!“

      Ich unterbrach die Verbindung. 1994, nach einer Vernissage, war es, wie soll ich es ausdrücken, ohne den fürchterlichen Begriff „One-Night-Stand“ zu verwenden … also nach dieser Vernissage in Trier hatte ich die Nacht mit … was, fragte ich mich, wenn es sich bei der Anruferin um meine zwanzigjährige Tochter handelte, von deren Existenz ich bisher weder geahnt noch gewusst hatte?

      Zwei Tage später rief sie wieder an. Und wieder eröffnete sie das Gespräch mit der Feststellung, sie habe meine Stimme hören wollen.

      „Woher haben Sie diese Nummer?“, fragte ich.

      „1994“, sagte sie. „Nach der Eröffnung Ihrer Ausstellung in Trier. Die Ausstellung, in der Sie zum ersten Mal Ihre Arbeiten aus Gips …“

      Ich unterbrach die Verbindung, ging ins Wohnzimmer, schenkte mir einen Likör ein, dann einen weiteren und machte mich, nach einem Kontrollblick in beide Kinderzimmer, wieder an die Arbeit. Längst arbeitete ich nicht mehr mit Gips. Das war ein Irrweg! Sowieso ist alles Dreidimensionale ein Irrweg, weil kein Künstler versuchen sollte, die Natur zu übertreffen. Seit vielen Jahren zeichnete ich nur noch und auch das erschien mir inzwischen zu kompliziert. Mir schwebte eine Kunst vor, die sich in ihrer völligen Schlichtheit der Natur Untertan macht und sie so durch, nennen wir es mal, Bescheidenheit, übertrifft. Damals in Trier … ich wünschte, ich könnte alles, was damals passiert ist, ungeschehen machen!

      Die folgenden Tage verliefen ohne Belästigung. Fast erleichtert fiel ich in den üblichen dumpf-betäubenden Trott zwischen Atelier und Kinderbelustigung zurück, aber am Samstagabend, als ich mich längst in Sicherheit wiegte, klingelte zu einer Unzeit das Telefon. Ich wusste sofort, dass sie es war.

      „1994“, sagte sie.

      „Was wollen Sie von mir?“, fragte ich und beinahe hätte ich entschuldigend hinzugefügt: „Damals in Trier war ich sehr betrunken gewesen.“

      „1983“, sagte sie.

      Ich ließ den Hörer sinken, merkte, dass mein Mund offen stand, hob den Hörer langsam ans Ohr. „Was meinen Sie mit 1983?“

      Sie antwortete: „Eine Wohnung ohne fließendes Wasser über einer Autowerkstatt.“

      Mir stockte der Atem. Das, worauf sie, und da gab es keinen Zweifel, anspielte, hatte ich nur einem einzigen Menschen erzählt und der war seit Jahren tot. Ich zog mit der Fingerkuppe die sich verzweigenden Grate des Rauputzes nach. Dann fragte ich mit einer Stimme, die seltsam hohl klang: „Wer sind Sie?“

      „Schau’n Sie aus dem Esszimmerfenster!“, sagte die Frau.

      Draußen, auf der anderen Straßenseite, unter einer Laterne, stand jemand. Ich setzte die Brille auf, die vor meiner Brust baumelte. Unten auf dem Bürgersteig stand eine ältere Frau. Eine Frau in meinem Alter. Sie sah zu mir hoch. Sah hoch zu einem dicken, erschrockenen Nagetier, das am erleuchteten Fenster stand. In der einen Hand hielt sie ein Mobiltelefon, in der anderen ein großes Küchenmesser. Ich vollführte eine beschwichtigende Geste. Doch schon legte die Frau die Klinge an ihre Kehle und zog sie mit einer raschen, fast triumphierenden Bewegung zur Seite. Ich hörte, wie ihr Handy aufs Pflaster schlug, dann unterbrach ich die Verbindung, als ob das zu diesem Zeitpunkt noch Sinn gehabt hätte. Mit einer Behutsamkeit, als würde ich ein Ei in kochendes Wasser senken, legte ich den Hörer hinter mir auf die Anrichte, nahm die Brille ab und presste die Stirn an das Glas der Fensterscheibe.

      Oft vergisst man, wie angenehm kühl Glas sein kann.

      DAS MUSEUM ZU KNOSSOS

      Er hatte die Geschichte nie niedergeschrieben. Oh, wie gut hätte sie in den Band Der Garten der Pfade, die sich verzweigen gepasst! Diese Geschichte nicht niederzuschreiben, war für ihn, wie eine Wanderung zu einem reizvollen Ort so lange aufzuschieben, bis man auf einmal feststellen muss, dass es diesen Ort seit Ewigkeiten nicht mehr gibt. Trotzdem kam es ihm vor, als hätte er die Geschichte irgendwann einmal geschrieben, in einem Traum, einem anderen Leben, als ein anderer, der doch er selbst war. Motivisch hätte sie sich nahtlos und nicht ohne Eleganz zwischen Die Lotterie in Babylon (nichts als Zufall gestaltet unser Dasein) und Die Bibliothek von Babel (die Welt ist eine Bibliothek) eingefügt. Es ist hier leider nicht der Ort, über die Gründe zu spekulieren, weshalb er nie Das Museum zu Knossos schrieb, einen im sachlichen Ton gehaltenen Bericht über jenes riesige Museum, von dem schon der Bildhauer Apollodoros in einem Fragment berichtet. Das Museum, erfährt man dort, „stellte Verschiedenes mit dem Anspruch der Vollständigkeit aus“. Offenbar kennzeichneten Tontäfelchen die Exponate. Eines Tages jedoch beschloss ein Fürst oder eine Gruppe von Fürsten, die erklärenden Tontäfelchen zu entfernen, damit „das Staunen ohne Grenzen“ sei. Von nun an war für die Besucher nicht mehr ersichtlich, wie die Künstler hießen, die für die Ausstellungsstücke verantwortlich zeichneten. Und auch das, was die Kunstwerke darstellten, befand sich von nun an im Bereich der Mutmaßung. Dennoch erfreute sich das Museum eines großen Zustroms von Besuchern, die zum Teil von weither angereist kamen. So erwähnt Apollodoros beispielsweise einen König mit Haut wie Lavagestein oder einen Krieger