dem mehrere Ballen aufgerollten Stacheldrahts lagen, führte eine enge Röhre steil in die Tiefe. Jürgen kroch voraus, ich folgte ihm, die Nase an seinen Schuhsohlen. Das Licht der Kerzen erhellte den roten Boden, die mit nassem Moos bewachsenen Wände und eine von Meißelschlägen schartige Decke, aus der Wurzelfäden hingen wie Indianerhaare. Plötzlich begann Jürgen zu keuchen. „Was’n los?“, fragte ich. – „Asthma!“, kam die gepresste Antwort. Und kurz darauf ergänzte er: „Ich steck fest!“ Sein Atem rasselte eine Weile blechern und nach einem heftigen Zucken der Füße fuhr er fort: „Ich krieg kaum Luft!“ – „Dann nimm halt dein Zeugs!“, sagte ich. – „Würd ich ja, aber das ist in meinem Ranzen.“ – „Scheißdreck!“, entfuhr es mir, denn der lag zu Hause auf meinem Bett. Rasch schmiedeten wir einen Plan: Ich musste nach Hause rennen, mit dem Inhalator zurückkommen, dann würde Jürgen sofort zwei Sprühstöße nehmen und käme danach sicherlich wieder frei. „Wenn ich wieder atmen kann, ist alles in Ordnung“, japste er. Also kroch ich rückwärts aus der Röhre, verließ die Höhle, klopfte den roten Sand von meinen Kleidern und rannte durch den Wald nach Hause. Dort angekommen, zog ich im Flur die Schuhe aus und wollte gerade in mein Zimmer schleichen, doch wir hatten Besuch. „Schau mal, wer da ist!“, sagte Vater und ich musste ins Wohnzimmer und Tante Almut und Onkel Heiner die Hand geben. Mutter stellte einen frischen Teller auf den Tisch und verkündete: „Tante Almut hat Erdbeerkuchen mitgebracht!“ Und da jeder wusste, wie sehr ich Tante Almuts Erdbeerkuchen mochte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu den Erwachsenen zu setzen und ein Stück Kuchen zu essen. „Bist du krank?“, fragte Tante Almut. „Normalerweise isst du doch mindestens zwei! Und wieso ohne Sahne?“ Und schon hatte ich das zweite Stück auf dem Teller, dann das dritte. „Lernst du auch fleißig?“, fragte Onkel Heiner, kaum dass ich das dritte Stück Erdbeerkuchen aufgegessen hatte, und fing damit an, mich über die Schule auszuhorchen. Ob das Fräulein streng sei. Ob es nette Mädchen in meiner Klasse gebe. Wie viel denn sieben mal neun machten und, er lachte verschwörerisch, ob ein Kamel ein oder zwei Höcker habe. Auf einmal stand Vater, der kurz den Raum verlassen hatte, in der Wohnzimmertür und sah mich streng an. „Du warst in der Höhle!“ – „Nein“, log ich, aber da hielt er meine Schuhe hoch, die rot vom Sand waren, und brüllte: „Ins Bett! Sofort ab ins Bett! Ohne Nachtessen!“ Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, denn rot waren die Schuhe, die er hielt, rot vom Sand der Schlangenhöhle. Also ging ich zu Bett. Erst weinte ich, dann las ich ein wenig. Irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Tag war Sonntag und wir machten einen Ausflug in den Deutsch-Französischen Garten. Wir fuhren mit der Seilbahn. Wir fuhren Tretboot. Ich aß Spaghettieis und meine Eltern tranken Kaffee aus winzig kleinen Tassen. Abends schob ich Jürgens Ranzen unters Bett. Montags kam er nicht zur Schule und der Platz neben mir blieb frei. Natürlich wurden mir Fragen gestellt. An diesem Tag und an den Tagen danach, aber ich behauptete stets stur und steif, wir hätten im Wald „Cowboy und Indianer“ gespielt, Jürgen habe dann schlimme Probleme mit seinem Asthma gehabt und sei nach Hause gegangen. Einige Tage später vergrub ich seinen Ranzen an der Brombeerhecke bei den Bahngleisen. Ich war nie wieder in der Schlangenhöhle. Und heute? Heute trinke ich selbst Kaffee aus winzig kleinen Tassen, kenne keine Eisdiele, die noch Spaghettieis anbietet, und weiß mit Sicherheit nur dies: Einen besseren Erdbeerkuchen als den von Tante Almut habe ich nie wieder gegessen. Aber es war ja auch Sommer und die Erdbeeren waren frisch aus ihrem Garten.
DIE LETZTEN JAHRE
Er ist der Bruder des Küsters oder dessen Cousin – er weiß es nicht mehr genau, aber das ist auch nicht wichtig, war es vielleicht nie. Seit vielen Jahren führt er Besuchergruppen durch den Dom, führt sie die schneckenhausenge Stiege hinauf ins Dachgestühl, wo man die grauen, aus Backstein gemauerten Iglus der Gewölbe sieht, führt sie die Rampe hinab in den Keller, wo sich ein älteres Heiligtum befindet (das zu zeigen ihm untersagt ist), führt sie durch den Kreuzgang mit den verblassenden Rötelzeichnungen, die in schwungvollem, fast kühnem Strich das Leben Jesu’ illustrieren. „Hier sieht man die Anbetung der Heiligen Drei Könige“, will er gerade sagen, obwohl er weiß, wie falsch die Bezeichnung ist (denn es sind ja eigentlich die Könige, die anbeten), da erinnert er sich. „Erinnern“ ist das falsche Wort, denn es ist vielmehr, als würde ihn die Vergangenheit einhüllen, überspülen wie die anrollende Flut den steinigen Strand. Als Kind, „erinnerte“ er sich, hatte ihn sein Vater, der Restaurator war, einmal, ein einziges Mal, hinab in den Keller des Doms mitgenommen und ihm eine Luke an der Wand gezeigt, eine winzige Luke in Bodenhöhe. „Schau mal durch die Luke!“, sagte sein Vater mit einem Ernst, der den Knaben geängstigt hatte. Und dennoch klappte er den hölzernen Deckel der Luke hoch und sah aus großer Höhe, als flöge er, hinunter auf das spitze Dach des Doms. Wind blies ihm ins Haar. Vögel, deren Namen er damals noch nicht kannte, flogen kreischend vorbei, und als er den Kopf in den Keller zurückzog, wo es nach Mörtel und Mäusedreck roch, hörte er seinen Vater sagen: „Das wirst du nie begreifen.“ Die Erinnerung nahm ihm den Atem und einige Empfindliche aus der Reisegruppe tauschten Blicke, doch er hob tapfer die Antenne des Zeigestocks und sagte: „Hier sehen Sie die Anbetung der Heiligen Drei Könige …“ Von nun an verging kein Tag, an dem er nicht an die Luke dachte. Manchmal kam es ihm vor, als wäre sein ganzes Leben zum Denken an die Luke im Keller des Doms geronnen, ja als wäre sein ganzes Dasein die Luke selbst. Und so vergingen seine letzten beiden Jahre.
WIR WAREN ZUM ABENDESSEN EINGELADEN
Nichts hat einen Anfang. Nichts hat ein Ende. Und doch muss ich diese Geschichte irgendwann beginnen lassen. Vergessen Sie bitte nie, dass der Anfang willkürlich gewählt ist. Das, was in Geschichten erzählt wird – auch das ist etwas, das Sie nicht vergessen sollten! –, muss nicht wahr sein, könnte aber wahr sein oder es könnte zwar erfunden sein, aber auf eine verborgene Wahrheit hinweisen, die nicht ausgesprochen werden kann oder darf. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Doch wir kamen zu spät und einige Gäste waren bereits ausgezogen. Eigentlich waren sie angezogen, doch uns kam es vor, als wären sie ausgezogen. Wir waren nicht zum Abendessen eingeladen. Die Tischplatte war aus flaschengrün eingefärbtem Glas und über den bloßen Beinen und Füßen der Nackten standen Schalen und Gläser mit Rotwein. Und als du die Rispe Johannisbeeren aus einer der Schalen nahmst, sah ich durch dich hindurch, sah durch dich und die flaschengrüne Tischplatte und die ganzen Gäste hindurch und sah, als blickte ich durch ein sich öffnendes Fenster, den Lkw, der sich schlaftrunken zur Seite neigte und auf die Gegenfahrbahn schlug, um Funken sprühend über den nassen Asphalt auf uns zuzurutschen. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Ich wünschte, wir hätten abgesagt. „Wir können leider nicht kommen“, hätten wir lügen sollen. „Wir haben einen wichtigen Termin, der nicht zu verschieben ist.“ Und noch während wir das sagen, wird alles durchsichtig und flaschengrün. Manchmal wäre es schön, wenn etwas einen Anfang hätte. Wenn etwas einen Anfang hätte, das kein Ende hat. Geschichten müssen nicht wahr sein, aber manchmal sind sie es und ihr Ende ist es auch. Letztlich ist jede Geschichte, die man erzählt, dieselbe Geschichte (ein alter Mann erinnert sich, als Kind im Keller eines Doms eine Luke gesehen zu haben), die Kunst ist es jedoch, jede Geschichte anders als die vorherige aussehen zu lassen. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Es war ein langweiliger Abend. „Da gehen wir nie mehr hin!“, sagtest du auf der Rückfahrt im Auto, die Füße auf dem Sitz, die Knie umschlungen mit deinen dünnen, bloßen, blau geäderten Armen. Es hatte zu regnen begonnen. Und hier lasse ich die Geschichte enden.
WIESO ICH ÜBERLEBTE
Am Abend vor der Schlacht saßen wir unter einem Baldachin vor dem Zelt des Generals und lauschten mehr oder weniger andächtig seinen Ausführungen. „Manchmal“, sagte er und genoss den vollen Klang seiner Stimme (er war vor dem Krieg Bühnenschauspieler gewesen), „lebt man wie ein Fahrradfahrer, der mit vor der Brust verschränkten Armen einen Hügel in eine malerische Senke hinabfährt.“ Er hob das Glas, hielt inne, dachte nach, den Blick nach innen gekehrt. „Das Wetter ist schön, der Wind, der die Haare des Radfahrers zaust, ist mild, ein Bach windet sich durch das Tal, Weiden, Ulmen, eine kleine Brücke überspannt das Flüsschen …“ Er leerte das Glas, setzte es ab, die Eiswürfel klirrten. Sofort trat aus dem Halbdunkel die Ordonanz und schenkte nach. „Aber an anderen Tagen“, fuhr der