PROLOG
Lacrimosa dies illa – Tränenreich ist jener Tag. Aus der Einsegnungshalle schwebten die Streicherstimmen des berühmten Requiems. William LaRouche beobachtete, wie eine elfenbeinfarbene Limousine den Ruländerweg zum Friedhofstor hinaufkroch. Dort angekommen, entstieg zuerst der Fahrer. Er umrundete das Fahrzeug, öffnete die Beifahrertür und bot einer Dame seine Hilfe beim Aussteigen an. Die hochgewachsene Frau trug einen dunkelbraunen Kamelhaarmantel und einen breitkrempigen Hut, dessen Schleier ihr Gesicht verbarg. Viele der Trauergäste wendeten sich ab. Nur wenige brachten den Mut für einen direkten Blick auf. Nie zuvor hatte William eine vergleichbare kollektive Bedrücktheit wahrgenommen, die noch dazu bei manchem mit einer verschämten Sensationslust verknüpft zu sein schien.
Die Menschen waren zum Katzenberg gepilgert – hinauf zum Friedhof, auf dem die Toten zu dieser frühen, schattigen Stunde nur selten in ihrer letzten Ruhe gestört wurden. Die Laubbäume zwischen den Grabreihen hatten längst ihre Blätter verloren. Pelziger Raureif ummantelte die kahlen Verästelungen und über allem lagen die Fetzen aufsteigender Dunstschwaden einer feuchtkalten Herbstnacht. Der Altweibersommer, der die Gegend in den letzten Wochen immer wieder mit Sonnenschein und angenehmen Temperaturen verwöhnte hatte, war Vergangenheit. Es roch nach Winter. Die Weingärten ringsum waren längst abgeerntet. Besonders der Spätburgunder versprach in diesem Jahr eine ordentliche Qualität, die ihre Liebhaber finden sollte.
Williams Blick strich über den Vorplatz der Trauerhalle,wo die in Grau und Schwarz gekleidete Gemeinde unruhig den Kies unter ihren Tritten knirschen ließ und weiße Atemwolken in den ungemütlichen Morgen des dritten Novembertages stieß. Zweifellos stand die bemerkenswerteste Beisetzung bevor, die man auf dem Katzenberg bis zu diesem Tage gesehen hatte. William konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige der Anwesenden das Gefühl auskosteten, Zeugen des letzten Aktes einer Verbrechensserie zu sein, die ganz Süddeutschland aufgewühlt hatte.
Nach all dem, was geschehen war, konnte auch William sich unmöglich auf die Position eines neutralen Beobachters zurückziehen. In den letzten Wochen hatte er die Bekanntschaft etlicher der Trauergäste gemacht, von denen eine Handvoll sogar verwandtschaftlich mit ihm verbunden war. Er spürte vereinzelte Blicke, die ihn halb zufällig, halb mit Vorsatz erreichten. In nicht allen erkannte er die wohlwollende Gastfreundschaft wieder, mit der er anfangs begrüßt worden war. Die Bluttaten, an deren Aufklärung er mitgewirkt hatte, würden auf ewig mit der beschaulichen Region um die älteste Universitätsstadt Deutschlands verwoben sein, die so stolz auf ihren tadellosen Ruf gewesen war.
Kamerateams bemühten sich derweil, ratlose Gesichter einzufangen, um damit die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen zu unterstreichen. Reporter mit lässig verknoteten Schals umklammerten ihre Mikrofone und resümierten betroffen vor starren Objektiven noch einmal die schrecklichen Ereignisse.
Lacrimosa dies illa. Das eigene Kind zu Grabe zu tragen, zerreißt jeder Mutter das Herz. Für einen Moment schien die Frau mit dem Schleier zu zögern. Wäre es für alle nicht erträglicher, wenn sie umkehren würde? In diesem Moment löste sich ein anderes weibliches Wesen, deutlich kürzer an Wuchs, dunkelgrau gekleidet und mit farbenfrohen Accessoires geschmückt, aus der Menge. Sie schritt mutig auf die Vermummte zu. Die beiden Frauen umarmten sich, die kleinere strich der längeren dabei liebevoll über den Rücken. Ein kahlköpfiger, rundlicher Mann in einem halblangen Allwettermantel legte seine Hand auf die Schulter eines jungen Rollstuhlfahrers, der zu ihm aufblickte und stumm nickte. Dann bahnten sich die beiden Frauen den Weg durch das zurückweichende Menschenspalier zur Einsegnungshalle.
1
Einige Monate früher …
Es war ein lauer Spätsommerabend, viel wärmer, als es die Wettervorhersage angekündigt hatte. Und geregnet hatte es ebenso wenig. Hildegard Möller-Schwinnhoff begleitete ihre Freundinnen zur Tür. Betty, die Haushälterin, reichte den Damen ihre Sommermäntel, die allesamt in gedeckten Weißtönen gehalten und damit schwer zu unterscheiden waren. Dann wurden die Hüte und die vorsichtshalber mitgeführten Schirme verteilt. Man verabschiedete sich und versprach, in zwei Wochen wieder vollzählig zum Bridgespiel in der Villa Raabe zu erscheinen.
Nachdem die Gastgeberin ihrer Angestellten beim Aufräumen im Salon zur Hand gegangen war, fühlte sich die bald achtzig Jahre alte Witwe ein wenig schläfrig. Sie gab Betty für den Rest des Abends frei, die daraufhin freudig ihre Badesachen packte, um sich ein paar erholsame Stunden in den Taunusthermen im nahe gelegenen Bad Homburg zu gönnen, die an Samstagen erst um Mitternacht schlossen.
Hildegard Möller-Schwinnhoff zog sich in ihr Schlafzimmer in der ersten Etage zurück. Dort setzte sie sich in ihren Lieblingssessel ans Fenster. Um diese Jahreszeit, dem Übergang vom Spätsommer zum frühen Herbst, schien es die Sonne jeden Tag eiliger zu haben, der Dunkelheit das Regiment zu überlassen. Der Blick der betagten Dame streifte von der Höhenlage am Fuße des Altkönigs über die Hügellandschaft des Vordertaunus, strich über das kleine Steinbach, die Bürostadt Eschborn bis hinunter nach Frankfurt, wo die beeindruckende Skyline des Banken- und Finanzzentrums in der Abenddämmerung glitzerte.
Hildegard war ein wenig blümerant zumute. Die Roteichen und Bergulmen, die das Anwesen umgaben, schienen im Zwielicht zu verschmelzen und das Blattwerk tanzte blass verschwommen vor ihren Augen. Ihr fiel ein Eichendorff-Gedicht ein: Dämmrung will die Flügel spreiten, schaurig rühren sich die Bäume, Wolken ziehn wie schwere Träume – Was will dieses Graun bedeuten?
Wahrscheinlich der niedrige Blutdruck, überlegte sie. Oder war es der Eierlikör, dem man während des Kartenspiels in geselliger Runde zugesprochen hatte? Sie schloss die Augen und erinnerte sich an Josef, ihren verstorbenen Mann. Blümerant. Dieses Wort schien auf ewig mit Josef verknüpft zu sein. Auch er hatte sich stets blümerant gefühlt, wenn er zu tief ins Glas geschaut oder in der Sommerhitze seine Kopfbedeckung vergessen hatte. Sie war fünfzig Jahre mit diesem Mann verheiratet gewesen, ehe er dahingegangen war. Hildegard wollte nicht klagen. Sie hatte zwei anständige Söhne und es fehlte ihr an nichts. Selbst gesundheitlich war sie ihrem Alter entsprechend zufrieden. Manchmal