Javier Salazar Calle

Ndura. Sohn Des Urwalds


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eigenes Echo. Tot.

       Verängstigt und von der Situation überwältigt, versuchte ich zu reagieren. In meinem Kopf dröhnte ein Bum-Bum-Bum, wahrscheinlich vom Aufprall. Augenblick! Das war nicht in meinem Kopf, in der Ferne hörte ich den Klang von Trommeln mit einer wiederkehrenden Melodie. Jemand schien in einiger Entfernung zu kommunizieren.

      “Scheiße!”, dachte ich.

       Ich stand taumelnd auf. Ein Gedanke machte sich in meinem Kopf breit. Wenn wir von Milizen abgeschossen worden waren, würden sie hierkommen und uns gefangen nehmen und vielleicht sogar töten. Wir mussten sofort weg von hier. Mein erster Gedanke war, Alex Bescheid zu sagen, aber als ich den Kopf drehte und ihn wieder ansah, wurde mir erneut bewusst, dass er tot war. Einige Sekunden lang war ich wie erstarrt, bis ich es schaffte mich wieder loszureißen. Ich ging zu Juan, der noch immer auf seinem Platz saß und sich ein paar Mal geschüttelt hatte, wie jemand der schläft und einen Albtraum hat.

      “Juan”, stammelte ich, “wir müssen von hier verschwinden.“

      „Und Alex?“ murmelte er, ohne die Augen zu öffnen.

      “Alex, … Alex ist tot, Juan.”, antwortete ich und versuchte nicht zusammenzubrechen. „Komm, Alex ist tot und wir werden es auch sein, wenn wir nicht gehen. Er ist tot.“

       Stolpernd suchte ich in dem Chaos solange nach meine Rucksack, bis ich ihn endlich fand. Ich nahm ihn und ging in den hinteren Teil des Flugzeugs. Hier hinten brannte eine Seite und es war sehr heiß. Im ganzen Flugzeug lagen Menschen in unnatürlichen Positionen, einige verletzt, andere versuchten etwas zu unternehmen und wieder andere waren tot. Von überall her hörte man Schreie, Stöhnen, Gemurmel. Ich erreichte die Bordküche und stopfte alles, was ich finden konnte in den Rucksack: Dosen mit Erfrischungsgetränken, belegte Brötchen, Päckchen, mit undefinierbarem Inhalt, eine Gabel. Als er voll war, ging ich zu Juan zurück und nahm mir seinen Rucksack, der auf einer Frau lag und packte einige Flugzeugdecken hinein. Dann erinnerte ich mich an den Verbandskasten und kehrte noch einmal in die Bordküche zurück. Da war er, auf dem Boden, geöffnet und der Inhalt auf der Erde verstreut. Ich sammelte alles ein, was in meiner Nähe war und ging Juan holen.

      “Komm, Juan, lass uns von hier abhauen.“

      „Ich kann nicht”, flüsterte er, „mir tut alles weh.“

      „Komm schon Juan, du musst aufstehen oder sie werden uns alle töten. Ich bringe die Rucksäcke raus und dann komm ich dich holen.“

      „Okay, okay, ich versuche es“, antwortete er mir und rutschte ein bisschen auf seinem Platz herum.

       Ich nahm die beiden Rucksäcke und ging nach draußen, wegen der Erschütterung durch den Aufprall taumelte ich dabei immer noch ein bisschen. Ich musste mich sehr anstrengen, nicht stehen zu bleiben, um den anderen Menschen zu helfen, aber ich wusste nicht, wie viel Zeit mir blieb und ich wollte nur leben. Einen weiteren Tag leben, um die nächste Morgendämmerung zu erleben. Wir befanden uns auf einer Seite der Lichtung inmitten des Waldes. Offensichtlich hatte der Pilot versucht hier zu landen, weil hier keine Bäume standen, aber er war etwas vom Weg abgekommen. Das Flugzeug hatte die linke Tragfläche verloren, als es gegen die großen Bäume gestoßen war. Eine dichte Rauchwolke, die jeder in einem Umkreis von vielen Kilometern sehen konnte, stieg aus dem Flugzeug auf. Ich ging ein Stück weit in das Dickicht und stellte die Rucksäcke am Fuß eines großen Baumes ab. Dann drehte ich mich um, um zum Flugzeug zurückzugehen, aber in diesem Augenblick stürmte eine Gruppe bewaffneter schwarzer Männer von der mir gegenüberliegenden Seite her auf die Lichtung. Schnell ging ich in die Hocke und versteckte mich hinter einem Baumstamm. Ein heftiger Schmerz stach mir in den Magen. Die Milizen, von denen einige Tarn- und andere Zivilkleidung trugen, umzingelten das Flugzeug, zielten mit ihren Waffen darauf und schrien pausenlos. Ich verstand nichts von dem, was sie sagten, aber wenn man berücksichtigte, in welchem Gebiet wir uns befanden, musste es Suaheli sein, oder wer, weiß was sonst.

      “Nitoka!”, schrien sie immer wieder, “Enyi!, nitoka!, maarusi!1

       Sofort begannen einige bestürzte und verwirrte Passagiere das Flugzeug zu verlassen. Sie wurden rücksichtslos auf den Boden geworfen und gründlich durchsucht. Weitere Rebellen tauchten auf. Einer der Passagiere, der Mann, der vor mir gesessen hatte, wurde nervös, stand auf und versuchte wegzulaufen. Die Milizen schossen mehrere Maschinengewehrsalven auf ihn ab, so dass er fast augenblicklich tot zusammenbrach. In diesem Moment der Verwirrung kam Juan aus dem Flugzeug und rannte in die gegengesetzte Richtung, weg von dem Ort, auf den alle ihre Aufmerksamkeit gerichtet hatten.

      ”Basi!2, Basi!”, riefen einige der Rebellen als sie ihn entdeckten.

      „Nifyetua!3” schrie der, der anscheinend der Anführer war, als Juan fast den Rand der Lichtung erreicht hatte.

       Da nahmen zwei von ihnen ihre Maschinengewehre und schossen ihm, ohne zu zögern in den Rücken. Eine der Kugel flog pfeifend direkt an mir vorbei. Ich zog den Kopf ein und kniff ganz fest die Augen zu, in dem aberwitzigen Glauben, dass mich das vor den Kugeln retten könnte. Knapp fünf Meter von der Stelle, von der aus ich alles beobachtete, sank er auf die Knie und bevor er vollständig zusammenbrach, sah er mich zusammengekauert dahocken und schenkte mir sein letztes Lächeln.

      “Nitoka, maarusi!”, schrien sie weiter in Richtung Flugzeug.

       Es kostet mich keine große Anstrengung nicht zu schreien, denn ich war gänzlich verstummt und wie gelähmt. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich so zubrachte, aber als ich wieder reagieren konnte, wusste ich, dass es nur einen Ausweg gab: fliehen, um mein Leben zu retten. Ich ergriffe die beiden Rucksäcke und entfernte mich, drang in das dicht belaubte Dickicht des Urwalds ein, so vorsichtig, wie es mir eben möglich war, was nicht viel war, denn ich taumelte, hatte Schmerz am ganzen Körper und war unfähig ihn vollständig zu kontrollieren. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte, aber mir war klar, dass meine Überlebenschancen umso größer wurden, je mehr Entfernung ich zwischen diese Barbaren und mich bringen konnte.

       Ich ging fast zwei Stunden lang, angetrieben von dem Schreck und der Todesangst, bis meine Beine nachgaben und ich erschöpft auf den Boden fiel. Die Rucksäcke fühlten sich an, als wären sie mit Steinen beladen. Mein linkes Knie schmerzte heftig. Seit ich mich beim Fußballspielen verletzt hatte, war es nicht wieder richtig verheilt und ab und an hatte ich immer noch Probleme damit, wenn es überbeansprucht wurde. Ich öffnete meinen Rucksack und holte eine Getränke-Dose heraus. Sie war noch etwas kühl und ich trank gierig. Ich schwitzte extrem, Schweißtropfen liefen in Sturzbächen von meinem Kinn, als hätte es gerade geregnet oder als wäre ich soeben aus dem Schwimmbad gestiegen. Ich bekam keine Luft und versuchte in tiefen Zügen durch den Mund einzuatmen. Ich verschluckte mich an einem zu hastigen Schluck, begann schrecklich zu husten und dachte, ich würde ersticken. Als ich es geschafft hatte, mich etwas zu beruhigen, stellte ich immer noch keuchend fest, dass das Licht abgenommen hatte, die Nacht brach an. Alex tot durch den Unfall, Juan von Kugeln durchlöchert. Ich hatte meine beiden besten Freunde in einem einzigen Augenblick durch einen dämlichen Bürgerkrieg verloren, den ich nicht verstand und der mir egal war. Warum bringen sie sich nicht gegenseitig um? Warum uns? Warum meine Freunde, Alex und Juan? Dreckskerle! Wenn es nach mir ginge, könnte sie alle gemeinsam in die Luft fliegen. Ihretwegen war ich jetzt allein in diesem feuchten, ermüdenden, stickigen Drecksloch. Ohne meine Freunde. Warum sie? Warum ich? Juans Tod, niedergemäht von diesen Barbaren, ging mir ein ums andere Mal durch den Kopf, als wäre es ein Film. Wie das Licht in seinen Augen erstarb, als er mir seinen letzten Blick schenkte…Ich versuchte nicht daran zu denken, es in einem geheimen Winkel meines Gehirns zu verstecken, aber es ging nicht. Vor einigen Stunden waren wir zusammen, haben gelacht, während wir uns an die Ereignisse auf unserer Reise erinnerten, und jetzt…

       Ich weinte eine ganze Weile, wie lange weiß ich nicht, aber es tat mir sehr gut. Als ich endlich aufhören konnte, ging es mir viel besser, auf jeden Fall hatte ich mich etwas beruhigt. Jetzt war sah man deutlich, dass die Nacht anbrach, der dämmerige Urwald betrat die Welt der Finsternis. Ich musste mir einen Platz zum Schlafen suchen. Ich hatte Angst davor, auf dem Boden zu