Javier Salazar Calle

Ndura. Sohn Des Urwalds


Скачать книгу

Affen oder was weiß ich denn noch für anderen wilden und hungrigen Raubtiere. Für irgendetwas musste ich mich entscheiden. Schlangen oder vor Wut rasende bewaffnete Männer? Die Schlange schienen mir die bessere Wahl zu sein, wenigstens hatten sie mir bis jetzt noch nichts getan. Ich suchte mir einen Baum, auf den ich leicht klettern konnte, die Schlangen aber nicht, und der irgendwo einen Platz bot, an dem ich es mir zum Schlafen bequem machen konnte.

       In diesen Moment wurde mir bewusst, welche unglaubliche Artenvielfalt an Bäumen und Pflanzen es hier gab. Beginnend mit den kleinsten, fast winzigen Pflanzen bis hin zu über fünfzig Meter hohen Bäumen, deren Stämme alle anderen überragten ohne das ich ihr Ende sehen konnte. Ein einziges Durcheinander von unterschiedlichsten Pflanzen, wohin man auch sah. Ebenso gab es riesige Palmen mit zerfransten grün-gesprenkelten Blättern von mehreren Metern Länge und kompakten und dichten Blütenständen4. Die oberste Baumschicht erreichte ungefähr dreißig Meter, aus der aber einige Bäume weit hinausragten. Die mittlere Schicht erreichte zehn oder zwanzig Meter mit ihren länglich geformten Bäumen, die den Zypressen ähnelten, die bei uns auf Friedhöfen stehen. Die Bäume der untersten Schicht erreichten fünf bis acht Meter, hier kam deutlich weniger Licht an. Es gab auch Büsche, alle möglichen jungen Bäume, wenn auch nur wenige, und eine Moosschicht, die an manchen Stellen fast alles bedeckte, genauso wie eine Unmenge an Lianen, die an allen Stämmen hinaufkletterten, von allen Ästen hingen. Überall waren Blumen und Früchte, vor allem in den obersten Schichten, die für mich unerreichbar waren. Auch konnte man alle möglichen Tiere erahnen, sie waren nicht leicht zu sehen, aber ich konnte unzählige unterschiedliche Vogelrufe und Schreie von Affen hören. Über mir zitterten die Äste, wenn sie sich darüber bewegten. Überall in der Luft und um die Blumen herum summten Insekten. Ich konnte sogar einige auf dem Boden lebende Tiere, deren Schritte ich wie ein entferntes Geräusch hörte wahrnehmen. Schmetterlinge und andere Insekten schwirrten überall herum. Ich hätte diesen herrlichen Ort genießen können, wenn ich nicht in dieser Situation steckte, aber im Augenblick war alles ein potentielles Hindernis für mein Überleben. Und alles machte mir Angst.

       Nach einer kurzen Suche fand ich einen Baum, den ich für geeignet hielt und kletterte mit beiden Rucksäcken auf dem Rücken hinauf. Sie schienen mir höllisch schwer zu sein und mein Knie flehte um eine Pause. Als ich hoch genug war, um mich sicher zu fühlen, aber noch nicht so hoch, dass ich mich bei einem Sturz in der Nacht schwer verletzt oder umgebracht hätte, machte ich es mir so gut es ging zwischen zwei dicken fast parallel verlaufenden Ästen bequem. Ich deckte mich mit einer der kleinen Decken, die ich aus dem Flugzeug mitgebracht hatte etwas zu und benutzte eine andere als Kopfkissen. Am Himmel konnte ich eine unglaubliche Menge von großen dunkelbraunen Fledermäusen ausmachen. Sie schlugen auf diese für sie typische Weise mit den Flügeln, was wie ein herumirrendes Geflatter wirkte und bewegten sich wie durch Impulse5. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie hätte zählen sollen, aber es waren bestimmt tausende, die vor allem die Palmen anflogen, um deren Früchte zu fressen, so dachte ich, oder um die Insekten zu jagen, die die Früchte fraßen.

       Ich hatte vielleicht zwei Stunden in kleinen Intervallen von fünfzehn oder zwanzig Minuten geschlafen. Die Geräusche setzten mir von allen Seiten zu. Ich hörte nur noch Schritte, Stimmen, Schreie, Krächzen, schrilles Gekreische, Gesumme, Geraune, ein andauerndes Gewisper, das unaufhörlich an- und abschwoll. Ich meinte sogar mehrmals den Todesschrei eines Kindes zu hören und das Trompeten von Elefanten. Ich wusste nicht, ob es sich nur so anhörte oder ob es wirklich so war. Ab und an war ein sehr beunruhigendes Brüllen zu hören, das mich an ein wildes Raubtier denken ließ, das mich im Schlaf fressen würde. Zeitweise nahm mir die Angst den Atem und drückte mir derart aufs Herz, das es fast wehtat. Jeder Laut, jede Bewegung, alles, was sich in meiner Umgebung abspielte war eine Qual, erzeugte ein erdrückendes, erstickendes Gefühl. Sobald es mir gelang einzuschlafen, war da wieder irgendetwas, so dass ich erneut erschrocken aus dem Schlaf hochfuhr. Manchmal sah ich in der unheimlichen Nacht Augen leuchten. Um mir Mut zuzusprechen, sagte ich mir, dass es nur ein einfacher Uhu war oder sein nächster in diesen Gefilden heimischer Verwandter. Aber diese Versuche, eine positive Einstellung zu behalten, waren nur von kurzer Dauer und am Ende sah ich immer Raubkatzen mit rücksichtslosen Absichten oder gefährliche Schlangen auf der Jagd. Dann wieder glaubte ich, in der Nähe Schüsse zu hören, wiederkehrende Gewehrsalven, aber wenn ich aufmerksam lauschte konnte ich nichts hören.

      “Javier”, hörte ich Alex rufen.

      “Ja, wo bist du?“, sagte ich, während ich aus dem Schlaf hochschreckte.

      ”Javier”, hörte ich wieder.

       Ich guckte in alle Richtungen, ängstlich, erwartungsvoll, begierig meinen Freund zu sehen. Bis mir klar wurde, dass Alex tot war, und dass ich mich allein und ohne Hilfe inmitten des Urwalds befand. Das war es, was mich erschreckte: dass ich mit niemandem rechnen konnte, der mir zu Hilfe kommen würde, dass da niemand war, mit dem ich den Schmerz dieses Momentes, meine Verzweiflung teilen konnte. Ich durfte nicht in Panik geraten, ich musste die negativen Gedanken aus meinem Kopf verbannen, um zu überleben. Aber ich konnte es nicht. Ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit führte dazu, dass ich in meine Ängste abtauchte.

      “Javier, Javier.”

       Sein steter, fragender und lockender Ruf erklang die ganze Nacht. Ich wäre mit ihm gegangen, wenn ich gewusst hätte wohin.

      WIE ICH DIE WUNDER DES URWALDS ENTDECKE

      “Nein, nein, tötet ihn nicht!“, schrie ich; während ich wild um mich schlug und deshalb mit einem dumpfen Geräusch vom Baum fiel.

       Ich schüttelte mich kräftig, um so meinen eigenen Hirngespinsten zu entfliehen und beachtete dabei die Schmerzen nicht, die der Sturz verursacht hatte. Ich sah mich völlig orientierungslos nach allen Seiten um und verharrte einen Moment lang ganz still, zusammengekauert, stöhnte wie ein schwerverletztes Tier. Während ich mir den angeschlagenen Rücken rieb, wurde mir klar, dass es sich um einen Albtraum gehandelt hatte. Ein sehr realistischer Albtraum, denn ich hatte geträumt, dass ich Juans Tod und den Flugzeugabsturz noch einmal erlebte, und dass ich Alex bewegungslosen Körper noch einmal zwischen meinen Händen spürte. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, meine Hände zitterten. Ich atmete eine Weile lang tief ein und aus und beschloss, mich zu bewegen, ich wollte mich nur noch so weit wie möglich von dem Flugzeug entfernen, in dem ich einen Teil meines Lebens verloren hatte. Meine Vergangenheit war fürchterlich, meine Zukunft trostlos.

       Ich hatte starke Rückenschmerzen, vielleicht wegen der Position, die ich auf dem Baum eingenommen hatte oder wegen des Sturzes oder wegen beidem zusammen und ich fröstelte. Voller Selbstmitleid stieg ich wieder auf den Baum, um die Rucksäcke zu holen und stellte fest, dass der mit dem Essen fehlte. Der Schreck, der mich bei dieser Erkenntnis durchfuhr war so heftig, dass ich beinahe wieder vom Baum gefallen wäre. Ohne diesen Rucksack war alles aus. Erschrocken suchte ich zwischen den Ästen und als ich dachte, ich würden ihn nie wiederfinden, sah ich, dass er auf den Boden gefallen war und sein ganzer Inhalt dort verstreut war. Möglicherweise hatte ich ihn bei meinem Sturz selbst mitgerissen oder ihn im Schlaf runtergeworfen. Vorsichtig stieg ich mit dem anderen Rucksack auf der Schulter runter und sammelte alles, was ich finden konnte ein: drei Dosen mit Erfrischungsgetränken, ein mit Wurst belegtes Brötchen, einige angeknabberte und mit Ameisen übersäte Kekse, ein Paket mit Salztütchen, um Salate zu würzen und die zwei Päckchen mit, wie sich jetzt herausstellte, Quittengelee. Der Rest war verschwunden, von Tieren weggeschleppt, wie ich vermutete. Daraus schloss ich, dass er in der Nacht runtergefallen sein musste.

       Ich beschloss, eine Bestandsaufnahme von allem, was ich bei mir trug zu machen, um zu sehen, was für mich nützlich sein könnte, und um wegzuschmeißen, was überflüssig war. Es hatte keinen Sinn, unnützes Gewicht mitzuschleppen und ich musste wissen, was mir zur Verfügung stand. Abgesehen vom Essen hatte ich in meinem Rucksack das Taschenmesser, das ich für meinen Vater gekauft hatte, alle Holzfiguren, einen Reiseführer über Zentralafrika, ein Paket Papiertaschentücher, ein Fernglas 8x30, eine kakifarbene Stoffmütze und ein T-Shirt mit der Aufschrift „I love Namibia“. Vom Verbandskasten waren ein halbvolles Paket Aspirin,