um die Uni-Zulassung konnte er damit nicht punkten, denn das entsprach einem Mindeststandard. Was gab also den Ausschlag? Tatsächlich waren im stolzen Staat der Arbeiter und Bauern Dorfjungen mit der Auszeichnung des Roten Arbeitsbanners eine absolute Seltenheit.
Ich schickte die Bewerbungsunterlagen ab und ging weiter der Feldarbeit mit dem Mähdrescher nach, um Geld zu verdienen. Lange keine Antwort, nichts. Ich hatte bei dem Schreiben vermerkt, dass der Absender das Porto für die Rückantwort bezahlt. Und dann kam sie doch noch! Der Postbote bringt mir einen Brief zum Mähdrescher. Ein Telegramm! Nur eine Zeile, aber was für eine! Wie ein Gedicht! Was da geschrieben stand, klang zeit meines Lebens wie Musik für mich: „Sie sind immatrikuliert – mit Wohnheim.“ Man hatte sogar darauf verzichtet, mich zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.45
Diese Zusage war zweifellos eine Sternstunde in Gorbatschows Leben. Er hob aufgrund seiner Herkunft den Anteil der echten Arbeiter- und Bauern-Kinder an der Universität, denn viele Studenten waren Städter aus bildungsnahen Schichten oder hatten die richtigen Parteibeziehungen, um an der begehrtesten und wichtigsten Universität des Landes aufgenommen zu werden. Gorbatschow hingegen hatte es mit seinen schulischen Leistungen und dem Arbeitsorden aus eigener Kraft geschafft. Für ihn begann damit etwas Neues und im Sommer 1950 hieß es Abschied nehmen von Priwolnoje.
Ich fuhr also dahin. Und wie ich nach Moskau fuhr! Einmalige Eindrücke! Aus einem Dorf, wo es kein Radio und keinen Strom gab, wo es nichts gab. Es gab keine Straßen, es war die entlegenste Ecke der Welt. Wenn im Herbst der Regen einsetzte, war es kaum mehr möglich, zu uns zu kommen – so viel Matsch. Moskau hat mich einfach erschlagen. Heute ist es lustig, davon zu erzählen. Ich musste erst lernen, U-Bahn zu fahren oder die Rolltreppe zu benutzen. Aus dem Mähdrescher konnte ich während der Fahrt aussteigen, am Rad hinab. Aber hier? Die Lichter der Stadt, die laute Straßenbahn, die einen kaum schlafen lässt. […] Als ich wegzog, um an der Universität in Moskau zu studieren, stand Großvater neben dem Kleinlaster, in dem wir zu zweit oder zu dritt saßen. Alles war schon beladen für unsere Fahrt zur Bahnstation im Gebiet Rostow am Don. Die Station hieß und heißt heute noch Pestschanokopskaja. Ich freute mich, war prima Stimmung, denn bald würde es ja losgehen. Plötzlich bemerke ich Großvater [Pantelej], wie er da steht, auf uns schaut und weint. Für ihn war das wohl eine Art Bilanz seines Lebens.46
Drei Jahre später wird Großvater Pantelej im Alter von 59 Jahren sterben. Doch jetzt kommt erst einmal der Dorfjunge Gorbatschow voller Neugier, Lebenslust und dem Willen, Erfolg im Studium zu haben, in Moskau an, in der Hauptstadt des Weltkommunismus. Die Reise mit dem Zug dorthin war die erste überhaupt in seinem Leben. Er wohnt nun in einem Studentenwohnheim – im ersten Studienjahr mit 22 anderen Menschen in einem Raum, im zweiten gemeinsam mit elf anderen, im dritten Jahr in einem Sechs-Mann-Zimmer – alles entsprechend der sozialistischen Ordnung. Und bald schon wird er hier eine Bekanntschaft machen, die erneut alles verändert. Er lernt die junge Raissa Titarenko kennen, die Liebe seines Lebens.
3. HOCHZEIT IN GELIEHENEN SCHUHEN
Das Studentenwohnheim, in das Michail Gorbatschow in Moskau einzieht, hat mehr Bewohner als ganz Priwolnoje. Es liegt am Flüsschen Jausa, nordöstlich vom Stadtzentrum. Zur juristischen Fakultät, direkt gegenüber dem Manage-Platz und dem Kreml, fährt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In diesem alten Universitätsgebäude-Komplex werden auch Marxismus-Leninismus, Philosophie und andere Fächer gelehrt. Sein Studentenwohnheim bietet alles, was es für ein Studentenleben braucht: eine Bibliothek, Cafés und einen Tanz-Club.
Das war natürlich eine kolossale Welt. 4 000 oder 6 000 Leute, ich weiß es gar nicht mehr genau. Wir machten es uns dort also bequem. Unter den Studenten waren auch ehemalige Frontsoldaten oder Austauschstudenten aus der DDR. Ein solcher Junge studierte mit mir und war mein Nachbar. Ein kräftiger Kerl, ein Berliner. Der sagte zum Beispiel [Gorbatschow spricht den folgenden Satz auf Deutsch]: „Machen sie bitte das Licht aus!“. Man sagte es dann zueinander: „Licht“. Er erkrankte an Tuberkulose und reiste ab. Ich wollte ihn später ausfindig machen, aber es kam irgendwie nicht dazu. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Und kannst du dich an Zdenĕk Mlynář erinnern? […] Das war mein bester Freund. Wir trafen uns [in den 1990er-Jahren – I.L.] wieder, setzten uns zusammen und gaben ein gemeinsames Buch heraus.1
Stalinist
Gorbatschows Freund aus der Studentenzeit, Zdenĕk Mlynář (1930–1997), stieg zum engsten Vertrauten des tschechoslowakischen KP-Generalsekretärs Alexander Dubček auf, war also direkt beteiligt an der Freiheitsbewegung, die 1968 als „Prager Frühling“ in die europäische Nachkriegsgeschichte einging. Bekanntlich wurde dieser Freiheitswille vom „großen sowjetischen Bruder“ und den Zwangsverbündeten mit Panzern niedergeschlagen. Darüber hinaus war Mlynář Mitbegründer der „Charta 77“, der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung. Und doch räumen sowohl Gorbatschow als auch Mlynář in einem veröffentlichten Dialog ganz offen ein, in ihrer Jugend überzeugte Stalinisten gewesen zu sein. Gorbatschow unterstreicht darin, sie beide hätten Stalins Tod 1953 als schweren Schlag empfunden und eine ganze Nacht angestanden, um an den Sarg zu treten. Mlynář liefert im Gespräch ein eindrückliches Zeugnis davon, wie verunsichert und besorgt sie der Tod Stalins zurückließ.2
Tatsächlich war Gorbatschow damals ein „Hundertprozentiger“ und ein höchst aktiver Parteigänger. Schon in seinem ersten Studienjahr 1950/51 war er Parteisekretär des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol in seiner Semester-Gruppe der juristischen Fakultät. Freimütig bekennt er sich zu seinen Anfängen als Kommunist und zu seinem Gefallen an Führungsrollen:
Für mich war wesentlich, dass auch Vater Kommunist wurde – und zwar an der Front. Ich muss aber hinzufügen, dass auch noch etwas anderes eine Rolle spielte, was in mir selbst, in meinem Charakter angelegt war. Heute [1993 oder 1994 – I.L.], da ich mich selbst sozusagen von außen betrachte, kann ich darüber sprechen. Schon seit meiner früher Jugend spielte ich mich unter meinen Altersgenossen gern als Anführer auf. Dieses Bedürfnis blieb auch, als ich in den Komsomol und später in die Partei eintrat, es war die Art und Weise meiner Selbstverwirklichung. Ich glaube, mit Ideologie hatte das wenig zu tun.3
Diese Begeisterung für die Rolle der Leitfigur war es unter anderem, die Gorbatschow dazu bewog, Jura zu studieren: „Mir gefiel […] das Amt des Staatsanwaltes. Das hatte was von einem großen Chef.“4
Die Indoktrination der kommunistischen Dogmen und der kommunistischen Lehre machte vor keiner Fachrichtung Halt. Entsprechend hatten auch Gorbatschow und seine Kommilitonen die umfangreiche Polit-Lektüre aufzunehmen und zu verinnerlichen, weshalb ihre Ausbildung damals kaum mit einem heutigen Jura-Studium zu vergleichen ist. Ebenso hat beispielsweise seine spätere Ehefrau Raissa weniger Philosophie in unserem Sinne studiert, wie verkürzt kolportiert wurde, sondern sie studierte Philosophie/ Marxismus-Leninismus. Später wurde sie promoviert in Soziologie.
Die Studentenzeit Gorbatschows war im Grunde zweigeteilt: Die erste Hälfte vom 1. September 1950 bis 5. März 1953 lag in der Stalin-Ära, während in der zweiten Hälfte bis Sommer 1955 die politische Tauwetter-Periode begann. Anfang der 1950er-Jahre erlebte er jedoch zunächst die Stalin’sche Hetze gegen Juden, die meist als „Kosmopoliten“ bezeichnet wurden, und auch die Paranoia rund um die sogenannte „Ärzteverschwörung“. Dabei handelte es sich um eine von Stalin erfundene Anschuldigung, die in einen Komplott gegen Ärzte mündete, die ihn und einige seiner Getreuen angeblich durch das Verabreichen von Gift oder auf andere Weise umbringen wollten. Viele dieser auch im Kreml tätigen Ärzte waren Juden. Anders als 1937 hatte der Terror in den 1950er-Jahren eine deutlich antisemitische Stoßrichtung.
Es folgten Denunziationen, Verhaftungen, Folterungen sowie eine inszenierte Presse-Kampagne, die in der Prawda-Schlagzeile vom 13. Januar 1953 gipfelte: „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske akademischer Ärzte“. Wer sich diese gesellschaftliche Situation und die kritiklose Gefolgschaft Gorbatschows in diesen Jahren vor Augen führt, beginnt zu bergreifen, welche Wegstrecke er zurückgelegt hat, bis er diesem System, das auf Angst und Anpassung beruhte, den Rücken kehrte.