begeistert, las es immer wieder und hatte es stets bei mir“, schrieb Gorbatschow in seinen Erinnerungen von 1995 – immer noch voller Euphorie.29
Belinski war ein russischer Philosoph und ein bedeutender Literaturkritiker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seinem romantischen Drama Dmitri Kalinin übte er Kritik an der Leibeigenschaft, was ihn in Konflikt mit dem Zarenregime brachte. Als Literaturkritiker verhalf Belinski unter anderen Fjodor Dostojewski zum literarischen Durchbruch, indem er dessen ersten Roman Arme Leute überaus positiv besprach. Über diesen Sammelband von Belinski aus der Priwolnojer Dorfbibliothek kam Gorbatschow rasch zu den Großen der russischen Literatur und verschlang die Werke von Alexander Puschkin und Michail Lermontow.
Lermontow eckte wie auch Belinski bei der Obrigkeit an und wurde zeitweise in den Kaukasus verbannt. Sein Roman Ein Held unserer Zeit scheint Gorbatschow, der auch viele seiner Verse auswendig kannte, besonders beeindruckt zu haben. Darin schildert der Dichter die Situation der gebildeten und freiheitlich denkenden Jugend seiner Zeit, die aufgrund des Stillstands unter dem Zaren unzufrieden war. Aus einer viel späteren Literatengeneration gefiel Gorbatschow insbesondere der sowjetische Futurist Wladimir Majakowski. All dieser Lesestoff bot viel Inspiration für einen Heranwachsenden in der nordkaukasischen Provinz und später auch Anlass für Gespräche in seiner Ehe mit Raissa.
Hunger, Terrorjahre und den Krieg hatte Michail Gorbatschow inzwischen hinter sich, ein Übermaß an Lebenserfahrung für den inzwischen 14-Jährigen. Entsprechend wankten erstmals die kindlichen Vorstellungen vom späteren Berufsleben: „Ich wollte Matrose sein. Ich glaube, es lag an den Uniformen, die mir sehr gefallen haben. Aber was konnte ein Junge aus der tiefen, fernen Provinz schon wissen? In unserem Dorf gibt es ein Flüsschen, den Jegorlyk. Er speist sich aus dem Kuban-Strom, der hat genug Wasser. Aber der Jegorlyk trocknete im Sommer immer aus. Und ich beschloss also, Matrose zu werden!“30 Doch es sollte anders kommen.
9. Mai 1945 – der Große Vaterländische Krieg ist zu Ende. Vater Sergej, der fast vier Jahre erbitterte Kämpfe an zahlreichen Fronten in Ost- und Mitteleuropa überlebt hat, ist noch kurz vor Kriegsende in der Nähe der slowakischen Stadt Kosice schwer verwundet worden, als deutsche Jagdbomber vom Typ Messerschmitt seine Stellung angriffen. Basierend auf den Schilderungen seines Vaters gibt Michail Gorbatschow das Drama wieder:
Jemand schrie: „Hinlegen! – Und ich warf mich hin auf den Boden“, sagte er. Doch das linke Bein ragte etwas empor. Dann kam die Explosion, und er wurde getroffen. Ein Splitter ging durch das Fleisch des linken Beins, 12 Zentimeter lang, aber der Knochen blieb unversehrt. Er kam zunächst in ein Frontspital, danach nach Krakau. Und so kam seine ganze Geschichte an der Front zu einem Ende. Seine Genesung nahm viel Zeit in Anspruch.“31
Als Sergej Gorbatschow wieder halbwegs auf die Beine kam und nach Priwolnoje zurückkehren konnte, fand er ein verändertes Dorf vor. Verlassene und heruntergekommene Hütten, noch mehr Armut als vorher, viele Witwen und Waisen. Ende 1945 nahm er seine alte Arbeit als Mechaniker und Mähdrescherfahrer in der Maschinen-Traktoren-Station wieder auf. Sie liegt außerhalb von Priwolnoje, der Weg dorthin ist noch 2015 selbst für einen Geländewagen recht mühsam. Moderne Erntefahrzeuge stehen hier heute in Reih und Glied, eine riesige Halle dient als Getreidespeicher. In dieser vormaligen Kolchose verdiente einst der junge Michail sein erstes Geld als Helfer seines Vaters. Der hatte ihn nach der Rückkehr von der Front und seiner Genesung zur Seite genommen und zu ihm gesagt: „Mischa, du bist jetzt groß genug. Ich habe mit dir etwas Wichtiges zu besprechen. Du siehst ja, es ist alles zerstört. Es fehlt an allem. Keine Kleidung, keine Schuhe. Man muss Geld verdienen. Und das geht nur, wenn man arbeiten geht.“32
Michail Gorbatschow redet mit Stolz von seinem Vater, er sei ein hochgeschätzter Mähdrescherfahrer gewesen, die Arbeit mit ihm habe großen Spaß gemacht und bald schon seien sie wie Freunde gewesen.
In der neunten Klasse, das war 1948, hatten wir die erste Nachkriegsernte. […] Die davor waren schlecht. Der Boden war ja überwuchert, keine Düngemittel, kaum landwirtschaftliches Gerät. 1948 gab es Staubstürme. Vater war äußerst verstimmt, dass man wieder Pech hatte. Wieder eine Dürre. Einmal sagte er an einem Sonntag zu mir: „Wir werden in die Steppe fahren und sehen, was mit dem Getreide auf dem Feld passiert.“ Und dann sind wir losgefahren. Das Gewächs wurde vom Wind ausgepeitscht bis […] zur Wurzel. Vater war höchst beunruhigt. Ich verstand das damals alles noch nicht. Erstaunlicherweise setzte aber zwei oder drei Tage nach unserer Fahrt in die Steppe Regen ein. Ein ruhiger Regen, kein Sturzregen. […] Vier Tage regnete es rund um die Uhr, und alles begann zu wachsen! Das Getreide, das Kraut. Und die Menschen erwachten wieder zum Leben.33
5 Gorbatschows Vater Sergej um 1950
Michails Leben bewegte sich nun in drei verschiedenen Welten: In der Schule, auf dem Feld und im zaghaften Privatleben, das damals schon nach dem fast obligatorischen Eintritt in den kommunistischen Jugendverband Komsomol im Herbst 1948 auch politisch war. Die pubertäre Trotzphase hatte er längst hinter sich gelassen und war zu einem Musterschüler aufgestiegen. Er begeisterte sich für Geschichte und Literatur, und die Fächer Mathematik und Physik zogen ihn ebenso an. Als Fremdsprache lernte er Deutsch. Das Wort „Ordnung“ hat sich ihm offensichtlich besonders eingeprägt, denn er warf es Jahrzehnte später als Weltpolitiker gern bei Gesprächen oder Interviews mit Deutschen gelegentlich ein. Sport dagegen lag ihm weniger. In Priwolnoje konnten Schüler nur bis zur achten Klasse die Schule besuchen. Die neunte und zehnte absolvierten sie in der Kreisstadt, falls die Eltern oder Kriegswitwen das Geld dafür aufzubringen vermochten.
In dieser Phase bekamen Sergej Gorbatschow und seine Ehefrau Maria noch mal Nachwuchs: Am 7. September 1947 wird Alexander geboren. Michail hat nun einen 16 Jahre jüngeren Bruder, was der sowjetischen Öffentlichkeit noch in den ersten Jahren der Perestroika nicht bekannt war. So tabuisiert waren selbst banale biografische Angaben über hohe Parteifunktionäre in der von fast manischer Geheimniskrämerei durchdrungenen Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges.
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Eine Generation später stoße ich 2016 bei der Spurensuche im Dorf Priwolnoje mit meinem Kamerateam unerwartet auf Relikte, die aus heutiger Sicht in völlig überflüssiger, fast komischer Weise wie ein Staatsgeheimnis gehütet wurden. Das in den 1970er-Jahren gebaute Steinhaus der Gorbatschows ist verwaist, und vor dem Eingang wucherte es mannshoch. Ein angrenzender Schuppen, vielleicht auch eine ehemalige Behausung oder Anliegerwohnung, ist offen zugänglich. Die Neugierde treibt uns hinein, und wir finden in einem Regal alte Hefte mit Schulnoten. Datiert sind sie auf das Jahr 1961. Sie gehörten Gorbatschows Bruder Alexander, der 2001 an Krebs verstarb. Einen Augenblick überlege ich, die Hefte nach Moskau mitzunehmen, um sie der Gorbatschow-Stiftung zu übergeben. Kamera-Mann Dmitri meint jedoch, es sei besser, alles so zu belassen, wie es ist. Ich stimme ihm zu.
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Alexander Sergejewitsch Gorbatschow, so sieht es sein Bruder Michail, hatte eine leichtere Kindheit und Jugend als er selbst. „Das wirkte sich auf seinen Charakter und seine Einstellung zum Leben aus. Mir behagte das nicht sonderlich, und ich versuchte, ihn meinen Lebensvorstellungen anzupassen“, räumt er in seinen Memoiren ein. „Doch Saschka [Koseform für Alexander – I.L.] ist sich selbst treu geblieben.“34
In den ersten Lebensjahren von Alexander haben die Eltern mit finanziellen Sorgen zu kämpfen, da vor allem Vater Sergej seinem Sohn Michail eine gute Ausbildung ermöglichen möchte. Alles wurde dafür getan, dass Michail die Oberschule in Molotowskoje besuchen konnte. Diese Stadt mit ihren zahlreichen Namen spiegelt bestens die wechselvolle Zeit der Stalin-Ära und der Terror-Jahre wider.
Molotowskoje, die Ende der 1940er-Jahre, als Michail Gorbatschow dort hinzog, etwa 10 000 Einwohner zählte, hieß ursprünglich Medweschje. 1935 verfügte Stalin, sie solle Jewdokimowskoje heißen – zu Ehren seines Mitstreiters Jefim Jewdokimow. Dieser war ein brutaler Verfolger der Bauern und organisierte zuvor im Russischen Bürgerkrieg Massenerschießungen auf der Krim. Vor allem aber war er ein enger Vertrauter vom Moskauer Geheimdienstchef Jeschow, der Stalins Großen Terror und die sogenannten „Großen Säuberungen“ landesweit umsetzte. 1938 fiel