und dass das Wort NATO nicht erwähnt wird. Wäre Gorbatschow ein schwacher Staatslenker gewesen, hätte er dem Widerstand der Hardliner in der sowjetischen Politik nachgegeben. Doch er setzte um, was er für richtig hielt. Von seinen Kritikern im eigenen Land blieben allerdings ohnehin viele in Deckung, hielten sich mit Vorwürfen zurück, denn die deutsche Frage war angesichts der kolossalen innenpolitischen Probleme ein Randthema. Und auch die Weltpresse erfährt zunächst kein Wort von der historischen Einigung. Selbst, als sich die beiden Staatsmänner nach dem Ende ihrer Gespräche vor der Staatsdatscha zeigten, äußerten sie sich vor der kleinen Schar der Pressevertreter nicht inhaltlich. Für Gorbatschow jedoch wurde „Archys zu einem einzigartigen Symbol der deutschen Wiedervereinigung auf sowjetischem Boden. In jener wunderbaren Umgebung besiegelten wir die deutsche Einheit.“16
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges mit vielen Millionen Opfern und unendlichem Leid – ziehen ihre Staatslenker jetzt nicht nur einen Schlussstrich unter die schmerzliche Vergangenheit, sondern rufen eine Zeit der Partnerschaft, der gegenseitigen Hilfe und des Friedens aus. Denn für die beiden Kriegskinder war, wie Helmut Kohl schrieb, „Friede nicht nur ein Wort, sondern ein existenzielles Grundbedürfnis.“17
Gorbatschow sucht nach dem Ende der offiziellen Verhandlungen zunächst die Nähe seiner Frau. Sie machen einen kurzen Spaziergang auf dem Gelände der Staatsdatscha. Er muss seiner Frau von den Ergebnissen berichtet haben, denn wenig später, als sie sich mit Hans-Dietrich Genscher unterhält, ist sie schon im Bilde. Die Rolle von Raissa Gorbatschowa ist in der Geschichte der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall einmalig. Kein sowjetischer Kreml-Herr hat sich mit seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit so bewusst als gleichberechtigtes Paar gezeigt; auch mit Raissas gelegentlich öffentlichem Widerspruch geht Gorbatschow gelassen um.
Wie den privaten Filmaufnahmen von Botschafter Blech zu entnehmen ist, macht Gorbatschow vor der Abreise noch einen zweiten Spaziergang mit Kohl – begleitet nur vom Dolmetscher. Raissa Gorbatschowa spricht währenddessen mit den Außenministern Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse und einem Dolmetscher. Die Rolle der „dekorativen“ Ehefrau ist ihre Sache nicht. Genscher erinnerte sich, dass sie schon am Vortag höchst politisch wurde: „Als wir zu dem bekannten Treffen am Fluss gingen, griff die Frau Gorbatschow plötzlich von hinten meine Hand und zog mich zurück und sagte: ,Wissen Sie, was mein Mann hier tut? Deutschland muss seine Verantwortung auch wahrnehmen, seine Zusagen auch einhalten.‘ Da habe ich gesagt: ‚Darauf können Sie sich verlassen.‘ – Das war die fürsorgende, politisch denkende Ehefrau.“18
Von Archys aus fliegen Gorbatschow und Kohl rund 45 Minuten Richtung Nordosten: Schelesnowodsk liegt nur zehn Kilometer vom Flughafen der Stadt Mineralnije Wody entfernt. Die beiden Orte sind bekannt für ihre Heilwässer und ziehen Kurgäste aus der gesamten Sowjetunion an. Im Lungensanatorium von Schelesnowodsk treten die Staatschefs endlich gemeinsam vor die Weltpresse. Die Teilung Deutschlands, wie sie auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 von US-Präsident Franklin Roosevelt, dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und dem britischen Premier Winston Churchill de facto zementiert worden war, ist nun überwunden. Um den Schauplatz dieser historischen Verkündung vom 16. Juli 1990 einordnen zu können, muss man jedoch noch einmal zurückblicken. Schelesnowodsk war im August 1942 von der Wehrmacht besetzt und im Januar 1943 von Truppen der Transkaukasus-Front der Roten Armee zurückerobert worden. Gut 47 Jahre nach der Befreiung sind nun nicht zufällig hier die internationalen Fernsehkameras und Mikrofone auf Michail Gorbatschow gerichtet. Er, vor allem er, hat die Versöhnung mit den Deutschen und die Wiedervereinigung ihres Landes maßgeblich ermöglicht. Dies allein hätte schon für den Friedensnobelpreis gereicht, den er drei Monate später, am 15. Oktober 1990, zugesprochen bekommen wird.
Doch Gorbatschow lässt seinem Gast den Vortritt. Der Kreml-Chef leitet die Pressekonferenz mit den Worten ein: „Sie können auf interessante Nachrichten gefasst sein.“ Der Bundeskanzler trägt „mit Genugtuung“19, wie er sagt, in acht Punkten vor, worauf sich beide Seiten geeinigt haben. Darunter fallen die Tatsachen, dass das vereinigte Deutschland die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen, jedoch endgültig nicht mehr die ehemaligen deutschen Gebiete Ostpreußen, Schlesien und Pommern beanspruchen wird. Außerdem sollen mit dem Vollzug der Einheit die Rechte der vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich erlöschen und Deutschland somit seine volle Souveränität zurückerhalten. Zur Bündnisfrage führt er wörtlich aus: „Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Ich habe als die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte; und ich bin sicher, dies entspricht auch der Ansicht der Regierung der DDR.“20
Dieser Satz legt sehr nahe, dass Kohl die am 18. März 1990 demokratisch gewählte DDR-Regierung vor seiner Reise in die Sowjetunion über die Verhandlungsinhalte nicht informierte. Auf jeden Fall steht fest, dass er die DDR-Regierung nicht sofort über die mit Gorbatschow erzielten Ergebnisse unterrichtete, obwohl es sich bei den Modalitäten für den Abzug der sowjetischen Truppen sowie den künftigen militärischen Status des Gebietes der DDR nicht nur um bundesrepublikanische Angelegenheiten handelte. An dem Treffen in Archys nahm kein einziger Vertreter der DDR teil, weder Ministerpräsident Lothar de Maizière noch Außenminister Markus Meckel. Letzterer spricht der damaligen Bonner Regierung zwar nicht ab, das Recht gehabt zu haben, allein in die Sowjetunion zu reisen. Doch da es bei den Verhandlungen insbesondere um die DDR gegangen sei, hätten Kohl und seine Minister über die Köpfe der ebenfalls zuständigen ostdeutschen Regierung entschieden.21
Horst Teltschik hält dagegen, dass Gorbatschow als Gastgeber die DDR-Seite hätte einladen können, was er aber nicht tat. Er meint, dass Gorbatschow deshalb so agierte, weil er mit der Bundesregierung indirekt auch über Finanzhilfen reden wollte sowie über den „Großen Vertrag“ zwischen den Sowjets und den Deutschen, der dann im November 1990 in Bonn auch unterzeichnet wurde.22 Fakt ist, dass zum Zeitpunkt der Kaukasus-Reise die DDR über keine Finanzhoheit mehr verfügte, da die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik zwei Wochen zuvor, am 1. Juli 1990, in Kraft getreten war.
Auf der Pressekonferenz in Schelesnowodsk unterstreicht Gorbatschow Deutschlands Atomwaffen-Verzicht, die drastische Reduzierung der Bundeswehr, aber vor allem die Bedeutung der Beschlüsse vom Londoner NATO-Gipfel, der zehn Tage zuvor zu Ende gegangen war – weg von einem rein militärischen Bündnis, hin zu einem mehr politischen. Und er erinnert daran, dass das östliche Bündnis Warschauer Pakt den ersten Schritt gemacht habe mit der Veränderung seiner Militär-Doktrin: „Das, was in London vor sich ging, war in der Tat so etwas wie der Anfang einer neuen historischen Entwicklung. Wir unterstreichen, dass dieser Kontext auch sehr wichtig ist. – Wenn also nicht dieser zweite Schritt in London gemacht worden wäre, wäre es sehr schwer gewesen, bei unserem gestrigen und heutigen Treffen weiter zu gehen.“23
Immer wieder hatte schon der sowjetische Außenminister Schewardnadse in den Wochen vor Archys die Bedeutung des Nato-Gipfels für die Moskauer Kompromissbereitschaft in der deutschen Frage hervorgehoben.24 Obwohl die NATO-Deklaration nicht explizit die Wandlung des Bündnisses in eine politische Gemeinschaft beinhaltete und vielmehr Absichtserklärungen und Angebote im Geiste der neuen Freundschaft zwischen Ost und West zum Gegenstand hatte, fassten die Vertreter der Sowjetunion es gern und zu Recht so auf. Und sie konnten jetzt vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung von einer grundlegenden Veränderung der NATO sprechen, die nicht mehr eine Bedrohung darstelle, sondern ein Freund und Partner sei.
Das internationale Presse-Echo auf das historische Kaukasus-Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl ist überwältigend. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel titelt mit einem Foto von Gorbatschow und Kohl: „Der Krieg ist zu Ende“, was keine Übertreibung ist. Denn mit dem Ende der Teilung Deutschlands ist auch die Teilung des europäischen Kontinents nach 45 Jahren überwunden.
Gorbatschow und die sowjetische Delegation begleiten die Deutschen zum nahe gelegenen Flughafen in Mineralnije Wody. Der Kreml-Chef hatte den Besuch des Bundeskanzlers bezeichnet als eines „der bedeutendsten internationalen Ereignisse, die mit den grundlegenden Veränderungen in der europäischen und in der Weltpolitik verbunden sind“.25 Entsprechend