und noch 2020 im Alter von 67 Jahren hier arbeitet, erinnert sich: Alles sei damals so geheim gewesen, dass nicht einmal die Hausbediensteten erfuhren, wer hier Urlaub machen oder als Gast kommen würde. Alle hätten eine Erklärung unterschreiben müssen, niemals auch nur ein Wort über die Datscha und die Gäste nach außen dringen zu lassen. Entsprechend hätten sie keine Fragen gestellt, auch nicht im Juli 1990. „Dass Präsident Gorbatschow und Kanzler Kohl kommen, verriet mir ein KGB-Mann erst in letzter Minute“, erzählt Schaposchnikowa und fügt hinzu: „Äußerlich ist hier alles wie seit der Eröffnung 1978: Die Möbel, die gesamte Einrichtung, selbst die Tapeten sind gleich geblieben. Nur untersteht das Gebäude jetzt nicht mehr dem KGB, sondern der Administration des russischen Präsidenten.“1
Helmut Kohl bezeichnete die Regierungsdatscha in seinen Memoiren als „alte Oberförsterei“, in anderen Publikationen ist die Rede von einer „Jagdhütte“, was beides nicht zutrifft. Im Eingangsbereich springt einem zwar ein ausgestopfter Gebirgsbock ins Auge, und auch im kleinen Konferenzraum hängt an der Wand der Kopf eines Ebers – aber das war es auch schon. In dieser Residenz für die Parteielite verbrachte Gorbatschow mit seiner Familie öfter seinen Winterurlaub und feierte ins neue Jahr hinein.
Warum fiel 1990 die Wahl ausgerechnet auf Archys als Ort für solch epochale Verhandlungen mit den Deutschen, warum nicht auf Moskau? Weil es die Heimat Gorbatschows und ein Privileg sei, von einem Russen nach Hause eingeladen zu werden, lautet seit Jahrzehnten die landläufige Erklärung. Tatsächlich aber befindet sich das Dorf in der Republik Karatschai-Tscherkessien. In Archys, rund 20 Kilometer von der Grenze zu Georgien entfernt, leben überwiegend turkstämmige Karatschaier – ein Bergvolk, das in Deutschland so gut wie niemand kennt. Gorbatschows Geburtsort Priwolnoje hingegen liegt gut sieben Autostunden und rund 450 Kilometer nördlich und ist überwiegend von Russen bewohnt. Helmut Kohl und seine Delegation, zu der unter anderen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Finanzminister Theo Waigel und der außenpolitische Kanzler-Berater Horst Teltschik gehörten, bekamen daher in jenen Juli-Tagen 1990 Gorbatschows eigentliche Heimat gar nicht zu Gesicht.
Bei ihren früheren Begegnungen ab 1988 hatten Kohl und Gorbatschow immer wieder ihre prägenden Erinnerungen an die Schrecken und Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs ausgetauscht. Beim Überfall des „Dritten Reichs“ auf die Sowjetunion im Juni 1941 war Michail Gorbatschow zehn, Helmut Kohl elf Jahre alt gewesen. Diese Gemeinsamkeit einer Kindheit im Krieg, wenn auch auf verschiedenen Seiten, verband die beiden ungemein.
1 Sowjetische, jetzt russische Staatsresidenz in Archys/Kaukasus, links unten im Bild: der Gebirgsfluss Bolschoi Selentschuk.
Es ist Gorbatschow, der informell bei seinem Bonn-Besuch 1989 den Vorschlag macht, den Bundeskanzler ins kaukasische Stawropol einzuladen, wohin es den späteren Kreml-Chef nach seinem Studium in Moskau verschlug und wo seine politische Karriere begann. Das Stawropol des einen entspricht gewissermaßen dem Mainz des anderen, wo die Polit-Karriere des Pfälzers Kohl Fahrt aufnahm. Dem Bundeskanzler gefällt dieser Gedanke, weshalb er seinen außenpolitischen Berater Teltschik beauftragt, bei dessen Moskau-Besuch im Mai 1990, als es um dringende deutsche Finanzhilfe für die Sowjetunion geht, Gorbatschow an diesen Vorschlag zu erinnern. Erst zwei Monate später und nur wenige Tage vor der geplanten Moskau-Reise des Bundeskanzlers lässt Gorbatschow Teltschik ausrichten, dass tatsächlich neben Moskau auch Stawropol zum Programm gehören wird. Von Archys aber ist noch keine Rede.2
Die abgeschirmte „KGB-Datscha“ kommt aus mehreren Gründen später noch ins Spiel: zum einen wegen der idealen Bedingungen für eine persönliche Begegnung, die sie den Hauptverhandlungspartnern bietet; dann wegen der landschaftlichen Schönheit ihrer unmittelbaren Umgebung; und schließlich wegen der Abgeschiedenheit und Unerreichbarkeit für unerwünschte Presse. Die meisten Medienvertreter sind ausgeschlossen und dürfen von Moskau und von Stawropol nicht nach Archys weiterreisen. Nur ein handverlesener Journalisten-„Pool“ versorgt die Weltpresse mit Bildern. Informationen über die Verhandlungsergebnisse dringen jedoch vorerst nicht durch. Diese werden der Welt erst nach Abschluss des Treffens im 200 Kilometer entfernten Schelesnowodsk präsentiert.
Nach der Rückkehr von dieser historischen Reise wird Kohl nicht nur von seinen westlichen Verbündeten gefeiert, sondern selbst die innerdeutsche Opposition zollt ihm Respekt. Schnell ist in der Öffentlichkeit die Rede vom „Wunder vom Kaukasus“ und vom „Strickjackentreffen“. Doch was hatte Gorbatschow dazu bewogen, Deutschland die volle Souveränität zurückzugeben? Was hatte sich in der „Datscha“ ereignet?
Nur die beiden Staatschefs waren direkt in der Regierungsdatscha untergebracht, während die Minister und übrigen Delegationsmitglieder in anderen Gebäuden außerhalb des streng bewachten Areals einquartiert waren. Vom Eingangsbereich im Erdgeschoss führt noch heute eine Tür geradewegs in ein überschaubares Verhandlungszimmer mit rundem Tisch. Links vom Flur befindet sich ein Billardzimmer und rechts ein geräumiger Speisesaal. Und genau dort, an einem langen Esstisch, verhandelten beide Seiten über den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR und über die alles entscheidende Frage, ob Gesamtdeutschland Mitglied der NATO werden dürfe oder nicht.
Über eine Treppe – kein Aufzug damals für die beiden Staatsmänner von Welt! – gelangt man in das Obergeschoss, wo Gorbatschow und Kohl direkt nebeneinander in großzügigen Räumlichkeiten untergebracht waren: Sie verfügten jeweils über ein Schlafzimmer, einen Wohnraum und ein großes Tageslichtbad, nicht luxuriös, eher gutbürgerlich. Selbst auf die obligatorischen Personenschützer, die vor den Nachtquartieren von Staats- oder Regierungschefs üblicherweise postiert sind, verzichtete der Gastgeber damals.
Welche Diskrepanz: Einerseits die weltberühmten Archys-Aufnahmen an der Uferböschung des reißenden Flusses Bolschoi Selentschuk, wohin Gorbatschow und Kohl hinabgestiegen waren, oder die Fernsehbilder von einer Sitzgruppe aus Baumstümpfen, wo die beiden Staatsmänner mit ihrer jeweiligen Entourage Entspanntheit und Leichtigkeit zur Schau stellten. Andererseits: der immense politische, der wirtschaftliche und vor allem der nicht zu unterschätzende moralische Druck, der auf dem Kreml-Chef lastet. Nach fünf Jahren als Führer der Sowjetunion steht sein Land wirtschaftlich und politisch am Abgrund. Zusätzlich werfen ihm die sogenannten sowjetischen Patrioten vor, die territorialen Errungenschaften des Zweiten Weltkriegs, die mit dem Blut der Veteraninnen und Veteranen erkämpft worden sind, leichtfertig preiszugeben. 1990 leben noch viele Veteranen, zudem hat fast jede sowjetische Familie als Folge des deutschen Angriffskriegs ein Opfer zu beklagen. Und dennoch herrscht unter der Bevölkerung auch viel Verständnis für die deutsche Sehnsucht nach Wiedervereinigung.
Helmut Kohls Dienstreise nach Moskau, Stawropol, Archys und Schelesnowodsk Mitte Juli 1990 wird die wichtigste in seinen 16 Jahren als Bundeskanzler. Er spürt den Zeitdruck: Wenn überhaupt, kann er die Einheit nur unter Dach und Fach bringen, solange Gorbatschow am Ruder ist. Und würde der Kreml die DDR vom östlichen Verteidigungsbündnis in die NATO ziehen lassen? Ohne diese Zustimmung aus Moskau würden auch die USA bei der Einheit nicht mitspielen. Tatsächlich will und braucht Gorbatschow die politische Nähe des Kanzlers, braucht unbedingt wirtschaftliche und finanzielle Hilfe für die schon zu diesem Zeitpunkt kollabierende und implodierende Sowjetunion. Doch es wäre zu simpel und verzerrend, in dieser finanziellen Notlage die entscheidende Voraussetzung für die politischen Zugeständnisse des Kremls zu sehen.
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2 Gorbatschow und Kohl am Bolschoi Selentschuk am 15. Juli 1990
Wirtschaftlich am Abgrund und gefangen in der Planwirtschaft – wie sich das im Alltag ausnahm, erlebte ich im Juni 1990 bei meiner ersten Reise nach Moskau. Als ich damals eines der Geschäfte auf dem Kusnetski Most nahe der Lubjanka, der berüchtigten KGB-Zentrale, betrat, konnte ich es nicht fassen: Im ganzen Laden nur leere Regale, keine Ware, nichts! Folgerichtig war ich auch der einzige Kunde, doch die Kassiererin hinter der manuellen Kasse musterte mich nur seelenruhig und dachte sich ihren Teil. Ich stellte mich höflich als Besucher aus Deutschland vor und wagte die naheliegende Frage, warum die Kasse überhaupt besetzt bleibe, wo es doch keinen einzigen Artikel zu kaufen gab: „Nun, das ist halt meine Arbeit“, erwiderte