Ignaz Lozo

Gorbatschow


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der Bundeskanzler in Bonn vor die Presse, und die Journalisten spenden ihm alle Beifall, obwohl so etwas dieser Berufsgruppe eigentlich wesensfremd ist. In Paris kamen zur gleichen Zeit die Außenminister der Zweiplus-Vier-Verhandlungsstaaten zusammen – Markus Meckel für die DDR. Sein sowjetischer Kollege Schewardnadse habe dort ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er, Meckel, als DDR-Vertreter und Verbündeter keine unmittelbare Unterrichtung durch die Sowjets erhalten hatte über die Ergebnisse von Archys.26

      Das Ehepaar Gorbatschow reiste nach dem historischen deutschsowjetischen Kaukasus-Treffen in privater Angelegenheit weiter, was angesichts der innenpolitischen Turbulenzen und der Arbeitsbelastung von Michail Gorbatschow längere Zeit nicht möglich gewesen war. Sie besuchten in Priwolnoje die 79-jährige Mutter des Staatschefs, Maria Pantelejewna Gorbatschowa.

      2. KINDHEIT UND JUGEND IM NORDKAUKASUS

      Ein ausländischer Besucher, der heute zu Recherchezwecken in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje reisen möchte, muss das vorher unbedingt mit dem Ortvorsteher abstimmen. Selbst Gorbatschows Cousine Maria Michalowa ist nur zu einem Interview bereit, als sie erfährt, dass eine entsprechende Erlaubnis vorliegt. Priwolnoje liegt in Südrussland zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, und Gorbatschows Elternhaus befand sich ganz am Ende dieses Dorfes. Die lang gezogene schmale Straße dorthin ist heute asphaltiert und von einer Reihe fester, elektrifizierter Ziegelstein-Häuser gesäumt – ganz anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

      Die Behausung, in der Michail Gorbatschow am 2. März 1931 zur Welt kam, ein Montagskind mit Sternzeichen Fisch, steht nicht mehr. Er kam in einer sogenannten Chata zur Welt. Das ist eine Art Hütte aus Ton oder Lehm, die in Belarus (Weißrussland), der Ukraine, in West- und Südrussland typisch war. Die Dächer bestanden meist aus Stroh, und Betten gab es darin nicht, bestenfalls Schlafgestelle.

      Iwan Budjakow, Ende 1930 geboren, besuchte mit Michail Gorbatschow die Grundschule. Iwans Familie war noch ärmer als die seines Freundes Michail, den er oft daheim besuchte. Iwan hat immer in Priwolnoje gewohnt, und gern zeigt er den Acker, auf dem die Chata einst stand: Vom Ende der Dorfstraße sind es etwa 30 Schritte bis zu der Stelle, wo früher das kleine Grundstück der Gorbatschows lag, das nun Teil des Ackers ist. „Genau hier. Auf dieser Stelle wurde er geboren. Die Chata wurde abgerissen, nachdem er zum Studieren nach Moskau ging. Er konnte gut singen und Balalaika spielen. Die hatte ihm sein Vater gekauft. Von Michail lernte ich auch ein biss-28 chen zu spielen. Wir kletterten auf den Ofen und dann sangen wir zur Balalaika […].“1

      Iwan Budjakows Mutter war so bitterarm, dass der Sohn bald keine richtige Kleidung und keine Schuhe mehr bekam, geschweige denn Schulbücher. Noch in der ersten Klasse musste er die Grundschule abbrechen. Doch mit seinem Freund Michail blieb er sein Leben lang verbunden, auch wenn sie sich nur selten sahen. Als Iwan im Oktober 2016 im Alter von knapp 86 Jahren starb, widmete ihm sein da schon lange weltberühmter Freund einen persönlichen Nekrolog auf seiner Website gorby.ru.2 Dieser Nachruf ist ein Beleg dafür, dass der ehemalige Führer der Supermacht Sowjetunion nie vergaß, woher er kam, und dass ihm Statusfragen privat völlig unwichtig waren.

      Gorbatschows Mutter Maria, die ihren Sohn im Alter von knapp 20 Jahren zu Welt brachte, war Ukrainerin. So wie viele aus ihrer Generation lernte auch sie nie lesen und schreiben. Als die Bolschewiki 1917 unter der Führung Lenins die Macht übernahmen, waren 75 Prozent der russischen Landbevölkerung Analphabeten. Gorbatschows russischem Vater Sergej war es immerhin vergönnt, vier Jahre die Schule zu besuchen.

      Maria war 18, Sergej 20 Jahre alt, als sie 1929 heirateten. Obwohl die Herrschaft der Sowjets zum Zeitpunkt der Eheschließung schon zwölf Jahre währte und die Machthaber sich entsprechend der kommunistischen Ideologie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auf die Fahnen geschrieben hatten, wurden vor allem in den Dörfern alle wichtigen Fragen nach wie vor von den männlichen Familienältesten entschieden. Michail Gorbatschow erzählte 2015: „Meine Mutter wollte meinen Vater nicht heiraten. Sie liebte ihn nicht stark genug. Mit der Zeit wurde es aber eine glückliche Ehe. Meine beiden Großväter hatten sich zusammengesetzt, alles beiseitegeschoben und verfügt: ,Ihr werdet heiraten! Basta!‘“ Und in Anspielung auf die propagierte Sozialistische Demokratie in Form der Diktatur des Proletariats, die in sowjetischen Dörfern in Wirklichkeit eine Diktatur des Patriarchats geblieben war, fügte er lachend hinzu: „So funktionierte Demokratie damals!“3

      Das Einmischen, ja die Bevormundung aufgrund des männlichen Senioritätsprinzips setzte sich noch fort: Nachdem die Jungvermählten Maria und Sergej ihren Sohn bekamen, einigten sie sich auf den Namen Viktor. „Ich hieß zwei Wochen lang Viktor“, gibt Gorbatschow die Erzählungen seiner Eltern wieder. Mutter Maria war sehr gläubig und wollte ihn heimlich taufen lassen. Großvater Andrej Gorbatschow brachte den Säugling in die Dorfkirche des Nachbarortes Letnizkoje (heute heißt der Ort Letnik, denn die Bolschewiken hatten die Steinkirche in Priwolnoje schon geschlossen und die ältere Holzkirche zerstört).4 „Und als man mich aus dem Taufbecken wieder herauszog, fragte der Pfarrer: ,Wie soll der Junge heißen?‘ Es musste ja alles in die Kirchenbücher eingetragen werden. – Mein Großvater darauf: ‚MICHAIL!‘ – Und das war’s. Auch diese Frage wurde ,demokratisch‘ entschieden“, fügte Gorbatschow wieder lachend hinzu.5

      Michail Gorbatschows Großvater mütterlicherseits, Pantelej Gopkalo, war Vorsitzender einer Kolchose und somit ein wichtiger Mann im Dorf. Auch war er aufgrund seiner Funktion materiell etwas bessergestellt als die meisten anderen Bewohner. Der Großvater väterlicherseits hingegen, Andrej Gorbatschow, blieb Einzelbauer, weil er keiner Kollektivwirtschaft beitreten wollte. Zwar lehnte er sich nicht offen gegen das Sowjetregime auf, geriet aber 1934 dennoch in dessen Fänge als „Saboteur“.

      Bis Michail Gorbatschow 14 Jahre alt und der Krieg zu Ende war, hatte er schon drei große Lebenskatastrophen durchgestanden und überlebt, die ihn im Vierjahresrhythmus heimgesucht hatten: 1933, 1937 und 1941. Diese prägten sein späteres berufliches und politisches Wirken maßgeblich. Die erste Katastrophe war der Holodomor, der Millionen Todesopfer forderte. Die Bezeichnung geht auf das russische und ukrainische Wort Holod (Hunger) und das alte ostslawische Wort Mor (Tod, Massensterben) zurück. Vorausgegangen war eine Dürre im Jahr 1931, doch die Hauptursache für das Massensterben waren die von Stalin befohlene Kollektivierung der Landwirtschaft und der zunehmende Terror gegen Bauern, die nicht freiwillig den kommunistischen Vorgaben folgen wollten. Das Heimatdorf Gorbatschows im Nordkaukasus liegt nicht weit von der Ukraine, wo die Bevölkerung teilweise erbitterten Widerstand sowohl gegen die Sowjetmacht in Moskau als auch gegen die von dort verfügte Kollektivierung leistete. Die Hungersnot grassierte jedoch nicht nur dort, sondern erstreckte sich auch auf den angrenzenden Nordkaukasus.

      Selbst Mitglieder von Stalins Führungsclique schienen über das grausame Ausmaß der Not bedrückt, aber nur die wenigsten hatten den Mut, dies anzusprechen. Politbüro-Mitglied Kliment Woroschilow, im August 1932 mit dem Zug in der Ukraine und im Kaukasus unterwegs, schrieb an Stalin, der gerade in Sotschi am Schwarzen Meer Urlaub machte: „Im gesamten Umland von Stawropol haben wir kein einziges bebautes Feld gesehen. Wir hatten mit einer guten Ernte gerechnet, doch daraus wird wohl nichts […] Und die Ukraine wirkte vom Zugfenster aus noch verödeter als der Nordkaukasus […] Es tut mir leid, dich damit in den Ferien behelligen zu müssen, aber ich konnte es einfach nicht verschweigen.“6

      Am 27. November 1932 sprach Stalin von „Schwierigkeiten bei der Getreidebeschaffung“, für die er Saboteure innerhalb der Kolchosen und Sowchosen verantwortlich machte. Die Parteizeitung Prawda, führendes Sprachrohr Stalins, rief zwischen dem 4. und 8. Dezember 1932 daher zu einem „entschiedenen Kampf gegen die Kulaken“, die Großbauern, auf, insbesondere in der Ukraine. Stalin setzte den Hunger als Waffe gegen sogenannte „anti-sowjetische Elemente“ ein: Die kommunistischen Parteikader stellten unerfüllbare Getreide-Abgabequoten auf, Brigaden der Bolschewiki suchten nach versteckten Lebensmitteln, ganze Dörfer wurden ausgeplündert und Hofbesitzer drangsaliert. Es handelte sich um nichts anderes als staatlichen Terror. In der Ukraine fielen dem Holodomor in den Jahren 1932 und 1933 schätzungsweise viereinhalb Millionen Menschen zum Opfer, und in der Bevölkerung kam es zu Kannibalismus. Jahrzehntelang war es in der Sowjetunion