10. Abschied vom sowjetischen System
12. Gorbatschow, die Befreiung Europas und der Mauerfall
Das Gemeinsame Europäische Haus
Unsere Deutschen, deren Deutsche
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben
Der Mauerfall aus sowjetischer Sicht
13. Deutsche Einheit für Nichterweiterung der NATO gen Osten?
Grünes Licht für die Wiedervereinigung
Westliche und östliche Positionssuche in der Bündnisfrage
Die Legende von gebrochenen Versprechen
14. Doppelherrschaft in Moskau – Anarchie und Agonie
15. 1991: Zerfall, Putsch und der Untergang der Sowjetunion
Der Totenschein für die Sowjetunion
Gorbatschow, der Politiker nach 1991
Quellen- und Literaturverzeichnis
VORBEMERKUNG
Michail Gorbatschow gilt als einer der größten Reformer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch über seine Absichten, seine Ziele und vor allem über die Folgen seiner Politik gehen die Meinungen und Bewertungen nicht nur in Russland auseinander. Entsprechend viele haben über Gorbatschow gesprochen oder geschrieben, wobei erstaunlicherweise bisher weltweit nur eine wissenschaftlich fundierte Biografie über ihn existierte – verfasst von einem amerikanischen Historiker und demnach mit einem Schwerpunkt auf den sowjetisch-US-amerikanischen Beziehungen.
Im Gegensatz dazu fokussiert die vorliegende Biografie auf den Menschen Gorbatschow und geht insbesondere der Frage nach, ob und wie sich dieser einst treue Leninist und Kommunist von der Ideologie und vom Block-Denken gelöst hat. Das landläufig herrschende Bild Gorbatschows als eines schon in seiner Amtszeit „westlichen“ Demokraten ist allerdings zu korrigieren, was seine kolossalen historischen Leistungen nicht schmälert.
Besonderes Augenmerk liegt darüber hinaus auf dem Weg zur Deutschen Einheit, von der Gorbatschow selbst 2019 sagte, sie sei eine seiner „wichtigsten Taten“ gewesen.1 Es geht darum, seine Evolution vom Dogmatiker hin zum „Freiheitsgeber“ sowie seinen Einfluss auf die friedliche Revolution in der DDR nachzuzeichnen. Persönliche Gespräche mit damaligen Entscheidern und politischen Verhandlungspartnern sowie die Dokumentenlage werfen neues Licht auf das bis in die Gegenwart kolportierte Narrativ, Gorbatschow sei 1990 von westlicher Seite versichert worden, die NATO werde sich nach der deutschen Wiedervereinigung nicht nach Osten erweitern.
Die Komplexität von Michail Gorbatschows Persönlichkeit ist ebenso wie sein Wirken herausragend. Er hat einen bewegten Lebensweg zurückgelegt – voller Erfolge, Niederlagen und Widersprüche –, war Leninist, Marktwirtschaftler, Kommunist, Bewahrer wie Demontierer des sowjetischen Systems und nicht zuletzt Demokrat. Durch meine Arbeit als Filmautor und ehemaliger Korrespondent in Moskau hatte ich die Möglichkeit, Michail Gorbatschow in den vergangenen 28 Jahren oft zu interviewen. Eigens für das vorliegende Buch empfing er mich 2019 am Moskauer Sitz seiner Stiftung zu einem ausführlichen Gespräch, bei dem es um seine Kindheit, seine Jugend und den Beginn seiner politischen Karriere ging.
Schon seit seinem Amtsantritt als Kremlchef 1985, als er im Westen noch skeptisch beäugt wurde, beschäftige ich mich mit Gorbatschow und der Glasnost-Politik. Als Historiker wie als Journalist war es mir immer wichtig, Akteure und Zeitzeugen selbst zu befragen sowie an die historischen Schauplätze zu gelangen. Meine eindrucksvollen Erlebnisse, Begegnungen und Gespräche auf zahlreichen Reisen sind in dieses Buch eingeflossen mit dem Anliegen, Geschichte wissenschaftlich fundiert und angemessen lebendig zu erzählen.
Wiesbaden, im November 2020
Ignaz Lozo
1. STRICKJACKEN UND DER MANTEL DER GESCHICHTE
Zu den ikonischen Bildern der Deutschen Einheit gehören jene vom Sommer 1990 mit Michail Gorbatschow und Helmut Kohl im Kaukasus. Dort trafen sich die beiden Staatsführer und ihre Delegationen in einer sowjetischen Staatsdatscha. 25 Jahre später erhalte ich von der Präsidentenadministration Wladimir Putins die exklusive Erlaubnis, diesen bis heute streng abgeschirmten Ort zu besichtigen.
Nachdem die Wachmänner meine Personalien überprüft haben, öffnet ein Posten das massive Eisentor, das zum Anwesen führt. Es sind noch einige Hundert Meter Fahrt auf dem asphaltierten Weg durch den Wald und entlang schön angelegter Gärten, bevor die Staatsdatscha auf einer malerischen Lichtung sichtbar wird. „Datscha“ ist eigentlich das falsche Wort, denn der Bau gleicht eher einer Trutzburg in der Größe von etwa drei Einfamilienhäusern. Der sowjetische Geheimdienst ließ das Objekt einst als Feriendomizil für die kommunistische Parteispitze bauen. Es liegt vor dem Ortseingang von Archys, einem kaukasischen Bergdorf, das heute rund 600 Seelen zählt.
Der damalige Chef des sowjetischen Geheimdienstes