Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder


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      Wie junge Wilde mischten wir uns töricht in Dinge ein,

       an die sich niemand sonst heranwagte.

       Die Wälder waren finster und dicht.

       Dämonen ergriffen vor uns die Flucht.

       Wir sahen unter Cola-Flaschen nach,

       von wie weit her sie kamen.

       Unsere Welten der Magie und des Staunens

       ließen sich nie mit dem Auto erreichen.

      Unsere Hunde liebten wir wie Brüder

       und unsere Fahrräder waren Raumschiffe.

       Wir waren zu den Sternen unterwegs,

       mit regelmäßigen Flügen zum Mars und zurück.

       Wir schwangen uns wie Tarzan an Schlingpflanzen durch die Luft

       und ließen Zorros scharfe Klinge aufblitzen.

       Wir waren James Bond in seinem Aston,

       wir waren Herkules ohne Ketten.

       Wir schauten in die Zukunft

       und sahen ein weit entferntes Land,

       in dem unsere Eltern alterslos waren

       und die Zeit aus Treibsand bestand.

       Wir füllten unser Leben mit Leben an;

       mit Lachen, abgeschürften Knien und Lärm.

       Im Spiegel sehe ich einen erwachsenen Mann,

       aber dieses Buch ist für die Jungs.

      Bevor wir uns auf die Reise begeben, will ich euch ein paar wichtige Dinge erzählen.

      Ich habe dies alles erlebt. Wenn man Ereignisse aus der Ich-Perspektive schildert, ergibt sich daraus ein Problem: Die Leser wissen, dass der Erzähler nicht ums Leben gekommen ist. Was mir auch passieren mag – was mir auch passiert ist –, ihr könnt euch gewiss sein, dass ich es alles erlebt habe. Ob mich das im Guten oder Schlechten geprägt hat, könnt ihr selbst entscheiden.

      An einigen Stellen werdet ihr vielleicht sagen: »He, woher weiß er denn, dass diese Situation sich so zugetragen hat oder dass diese Person das gesagt oder getan hat, wenn er gar nicht mit dabei war?« Die Antwort auf diese Frage ist, dass ich später genug herausgefunden habe, um die Lücken füllen zu können, oder dass ich manchmal erfunden habe, was passiert ist. Oder in anderen Fällen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich so zugetragen haben sollte, auch wenn es nicht so war.

      Ich bin im Juli 1952 geboren. Ich werde jetzt bald vierzig. Mann, das ist eine Zahl, was? Ich bin kein vielversprechendes junges Talent mehr, wie früher in meinen Buchbesprechungen stand. Ich bin, was ich bin. Ich schreibe seit der Grundschule und habe mir schon Geschichten ausgedacht, bevor ich richtig verstand, was das eigentlich ist. Seit 1978 bin ich ein veröffentlichter Schriftsteller. Oder sollte ich Autor sagen? Paperback writer, wie die Beatles sangen – Taschenbuchautor. Hardcover-Autor? Eins ist jedenfalls sicher: Ich habe tatsächlich ein hartes Äußeres entwickelt. Wie all unsere Brüder und Schwestern auf unserem kreiselnden Planeten habe ich Tritte eingesteckt und auf Freundlichkeiten hin Lächeln verschenkt. Mir ist die Fähigkeit gegeben worden, aus reichem Stoff Personen und Welten zu erfinden. Schriftsteller? Autor?

      Wie wäre es mit Geschichtenerzähler?

      Ich wollte meine Erinnerungen auf Papier bannen, wo ich sie festhalten kann. Denn ihr müsst wissen, dass ich wirklich an Magie glaube. Ich bin in einer magischen Zeit in einem magischen Ort unter Zauberern geboren worden und aufgewachsen. Oh, die meisten anderen merkten nicht, dass wir in diesem Netz der Magie lebten und durch Silberfäden namens Umstände und Zufall verbunden waren. Aber ich wusste es von Anfang an. Im Alter von zwölf Jahren war mir die Welt eine Laterna magica, in deren grünem Geisterlicht ich die Vergangenheit und Gegenwart sah und Blicke in die Zukunft stahl. Ihr wahrscheinlich auch; ihr erinnert euch nur nicht mehr daran. Denn ich glaube Folgendes: Uns allen ist Magie am Anfang unseres Lebens vertraut. Wir kommen voller Wirbelstürme, Waldbrände und Kometen auf die Welt. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, mit Vögeln zu singen und Wolken zu lesen und unsere Zukunft in Sandkörnern zu sehen. Aber dann wird uns die Magie aus der Seele wegerzogen. Sie wird uns rausgepredigt, rausgeohrfeigt, rausgewaschen und rausgekämmt. Uns werden Grenzen gesetzt und man sagt uns, verantwortungsbewusst zu sein. Wir werden angewiesen, uns unserem Alter entsprechend zu verhalten. Endlich erwachsen zu werden, um Himmels willen. Und wisst ihr, warum man uns das sagt? Weil die Menschen, die uns das sagten, Angst vor unserer Wildheit und Jugend hatten, und weil die Magie, die wir kannten, sie sich schämen ließ und traurig machte. Denn sie hatten zugelassen, die Magie in sich selbst verdorren zu lassen.

      Wenn man sich erst mal so weit davon entfernt hat, kann man allerdings nicht wirklich wieder zurückfinden. Du kannst ein paar Sekunden davon erleben. Sekundenlanges Wissen und Erinnern. Wenn Kinobesuchern die Tränen kommen, dann liegt es daran, dass dieser goldene Teich der Magie im dunklen Filmtheater berührt wird, ganz kurz. Dann treten sie wieder hinaus in den harten Sonnenschein der Logik und des Verstandes und der Zauber vertrocknet erneut und in ihnen bleibt ein bisschen traurige Sehnsucht zurück, die sie sich nicht erklären können. Wenn ein Lied eine Erinnerung weckt, wenn Staubpartikel in einem Lichtstreifen tanzen und deine Aufmerksamkeit von der Welt ablenken, wenn du nachts in der Ferne einen Zug vorbeirauschen hörst und dich fragst, wohin er wohl fährt, verlässt du das, was du bist und wo du bist. Für einen winzigen Sekundenbruchteil betrittst du das Reich der Magie.

      Das ist es, was ich glaube.

      Eine Lebenswahrheit ist, dass wir uns mit jedem Jahr weiter von der Essenz dessen entfernen, mit dem wir auf die Welt gekommen sind. Uns werden Lasten zu tragen auferlegt, manche davon gut, andere weniger gut. Dinge stoßen uns zu. Geliebte Menschen sterben. Manche erleiden Unfälle und sind danach verkrüppelt. Menschen kommen auf Abwege, und das aus den unterschiedlichsten Gründen – in diesem verrückten Labyrinth, das unsere Welt ist, fällt es schwer, nicht vom Weg abzukommen. Das Leben an sich tut sein Bestes, uns die Erinnerung ans Magische zu stehlen. Du merkst es gar nicht, bis du eines Tages das Gefühl hast, irgendetwas verloren zu haben, ohne zu wissen, was es ist. Ähnlich, wie wenn man ein hübsches Mädchen anlächelt und sie einen Sir nennt. Es passiert einfach.

      Diese Erinnerungen daran, wer ich war und wo ich lebte, sind mir wichtig. Sie sind ein großer Bestandteil von dem, der ich sein werde, wenn meine Reise sich dem Ende neigt. Wenn ich jemals wieder Magie heraufbeschwören will, brauche ich die Erinnerung daran. Ich muss dieses Wissen haben und mich erinnern, und ich will euch davon erzählen.

      Ich heiße Cory Jay Mackenson. Meine Heimatstadt war ein Örtchen namens Zephyr im Süden Alabamas. Dort war es nie zu kalt oder zu heiß. Wassereichen warfen ihre Schatten auf die Straßen und die Häuser hatten vorn eine Veranda und Fliegengitter an den Fenstern. Es gab einen Park mit zwei Baseballplätzen, einen für Kinder und einen für Erwachsene. Es gab ein Schwimmbad, dessen Wasser blau und klar war und wo Kinder am tiefen Ende nach Pennys tauchten. Am Unabhängigkeitstag wurde ein Barbecue gegeben und am Ende des Sommers ein Schreibwettbewerb. 1964, als ich zwölf Jahre alt war, lebten ungefähr tausendfünfhundert Menschen in Zephyr. Es gab das Bright Star Café, ein Woolworths und einen kleinen Lebensmittelladen. Draußen an der Route Ten war ein Haus mit leichten Mädchen. Nicht jede Familie besaß einen Fernseher. Das County war trocken, kein Alkohol erlaubt, was bedeutete, dass Schwarzbrenner ein gutes Geschäft machten. Die Straßen waren nach Süden, Norden, Osten und Westen ausgerichtet, und nachts ratterte ein Güterzug auf dem Weg nach Birmingham durch die Stadt und ließ den Geruch von verbranntem Eisen hinter sich zurück. Zephyr hatte vier Kirchen und eine Grundschule, und auf Poulter Hill einen Friedhof. In der Nähe gab es einen See, der so tief war, dass er genauso gut keinen Grund hätte haben können. Meine Heimatstadt war voller Helden und Bösewichter, ehrlicher Menschen, die die Schönheit der Wahrheit kannten, und anderer, für die Lügen Schönheit bedeuteten. Meine Heimatstadt war deiner vermutlich ähnlich.

      Aber Zephyr war ein magischer Ort. Bei Mondlicht gingen Geister um. Sie stiegen aus dem grasbewachsenen Friedhof auf und standen auf dem Hügel und unterhielten sich über die gute alte Zeit, in der Coca-Cola noch schmeckte und in der man einen