immer schrecklich nervös. Kai und Heike hatten sie nur wenige Male gesehen, denn ihre Eltern hatten kaum Kontakt mit ihr gehabt.
»Aber in meiner gepflegten Etagenwohnung kann ich den Hund auch nicht halten«, ertönte nun die Stimme von Tante Sofia. »Schon schlimm genug, daß ich auf meine alten Tage noch ein Kind großziehen soll. Immerhin bin ich fast fünfzig und hatte gottlob meine Gundula verheiratet. Sie erwartet ein Baby und hofft auch auf ein wenig Hilfe von mir. Es ist fürchterlich! Es wirft alle Pläne um. Aber was sollen wir tun? Die Kinder ins Waisenhaus geben? Da reden doch die Leute über einen.«
Und dann warf Onkel Jobst ungeduldig ein: »Wir müssen das Kind nehmen, Sofia, aber der Hund wird verkauft oder ins Tierheim gebracht. Gibst du mir bitte noch eine Tasse Kaffee?«
Erschauernd sahen sich die Kinder an.
»Hast du gehört?« flüsterte Heike mit zitternden Lippen. »Wir dürfen nicht zusammenbleiben. Und… und Bimbo…?«
Ihre zarte Stimme brach weinend ab. Dafür begann nun Kai zu reden, leise und in fieberhafter Hast, hinter der sich die ganze Herzensnot des Jungen verbarg.
»Ich dulde nicht, daß man Bimbo ins Tierheim steckt! Ich… ich will auch nicht nach Süddeutschland zu Onkel Max und Tante Rita. Bestimmt hätten Mutti und Vati auch nicht gewollt, daß wir uns trennen, Heike.«
Fester schlangen sich Kais Arme um die haltlos aufweinende Schwester.
»Wir bleiben zusammen! Aber nun sei doch still, damit ich dir was sagen kann!«
Ein leiser Hoffnungsschimmer glühte in Heikes Augen auf.
»Was… was willst du mir denn sagen, Kai?«
Noch zögerte der Junge, aber ein Blick auf den leise winselnden Hund, der etwas von der Tragik der verlassenen Kinder spüren mußte, brachte Kai Gewißheit.
»Es geht nicht anders!« sagte er trotzig und begann dann leise und energisch auf Heike einzureden. »Wir müssen fort, ehe die da drin fertig sind mit Kaffeetrinken! Sie denken, wir seien müde geworden und eingeschlafen, das… das Begräbnis von Vati und Mutti habe uns erschöpft. Aber wir sind hellwach! Wir lassen uns nicht so auseinanderreißen. Und ins Heim gehe ich auch nicht wieder. Die zwei Tage haben mir genügt.«
»Mir auch! Mir auch, Kai!« rief Heike erschreckt aus.
Seit jene Frau zum Kindergeburtstag von Will Reiten gekommen war, um sie abzuholen und in dieses Heim zu bringen, weil ihre Eltern mit dem Auto verunglückt seien und nicht wieder zu ihnen kommen konnten, lebte Heike in einem einzigen schrecklichen Traum aus Weinen und Warten auf die geliebten Eltern.
Sie konnte einfach nicht verstehen, daß Vati und Mutti niemals mehr zu ihr kommen würden.
»Ich will auch tot sein!« weinte sie nun jäh wieder auf und begrub ihr Gesichtchen im Kissen. »Ich will nicht zu Tante Sofia und Onkel Jobst nach Düsseldorf! Ach, wären doch Mutti und Vati wieder da! Es ist so schrecklich ohne sie.«
»Nicht weinen, Heike! Bitte, sei doch ruhig, sonst hört man uns nebenan! Wir werden fortgehen! Schau nur, ich habe schon meine große Sporttasche gepackt. Vorhin, als die da drüben sich zankten um Muttis Schmuck, da habe ich gleich gewußt, daß ich mit denen nichts zu tun haben will. Ich gehe mit Bimbo zu Old Henry!«
Das letzte rief Kai fast trotzig und herausfordernd aus, während seine blauen Augen aufmerksam auf dem geröteten Gesichtchen der Schwester ruhten.
Darin las er nun Angst und Bestürzung, während Heike atemlos hervorstieß: »Zu Onkel Henry? Aber, Kai! Der ist doch so böse! Zu dem will ich nicht! Der mag Vati doch nicht. Immer hat er geschimpft mit ihm. Weißt du das denn nicht mehr?«
»Klar weiß ich das«, gab Kai mürrisch zurück. »Aber er war zu uns und Mutti immer ganz freundlich. Mutti hat mal zu mir gesagt, Old Henry sei der zuverlässigste Mensch, den sie kenne. Aber so besonders mag ich ihn ja auch nicht. Ich habe mir nur was überlegt, Heike. Hör mal zu!«
Sehr aufmerksam hörte das Mädchen zu, und nun flog ein Leuchten über Heikes Züge.
»Glaubst du, Kai?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Bestimmt!« flüsterte Kai. »Die alte Lina mag uns doch. Sicher hilft sie uns. Aber nun komm! Wir müssen uns davonschleichen. Bimo, sei leise! Hier, Heike, nimm noch den Beutel. Wir brauchen ja einige Sachen zum Anziehen. Fahrgeld habe ich zum Glück, und den Weg kennen wir ja. Haben ja oft mit Mutti dort Ferien gemacht.«
»Ja«, wisperte Heike und rutschte vom Bett, »aber Vati ist immer gleich wieder dort abgehauen. Wegen Henry! Erst fuhr Vati fort und dann Onkel Henry. Warum waren sie so böse miteinander?«
»Weiß ich auch nicht. Ist jetzt auch egal. Komm! Und sei leise!«
*
Der Anruf erreichte Frau Steiger, kurz bevor sie ihr Büro verlassen wollte.
Er kam von der Polizei und entwickelte sich zu einem langen Gespräch, in dem es um zwei verschwundene Kinder ging, nämlich um Kai und Heike Brünnig, die vor drei Tagen durch einen Autounfall ihre Eltern verloren hatten und die bis heute in einem Kinderheim der Stadt Hannover untergebracht waren.
Gegen Mittag waren sie von einem angereisten Onkel abgeholt und mit zum Begräbnis der Eltern genommen worden, weil das dem Wunsch des Jungen entsprach.
»Ja, ja! Das ist mir alles hinreichend bekannt«, unterbrach Frau Steiger leicht ungeduldig die Rede des Polizeibeamten. »Ich weiß, daß die Kinder sich bei den Verwandten befinden, und zwar in der Wohnung der Verstorbenen. Wir haben das für eine vernünftige Lösung gehalten. Es gibt einen Bruder der verstorbenen Frau Brünnig und eine Schwester des Herrn Brünnig. Sehr wahrscheinlich wird jedes der Ehepaare eines der Kinder in seine Obhut nehmen. Sonst sind ja keine Verwandten da.«
»Nun«, ertönte trocken die Stimme des Beamten, »vorerst sind einmal die Kinder nicht mehr da, verehrte Frau Steiger. Sie, als Leiterin des Vormundschaftsamtes, sollten das vorrangig erfahren. Anscheinend ist da in Ihren Vorstellungen einiges schiefgelaufen. Wir müssen die Kinder suchen, da die Verwandten sie als vermißt gemeldet haben.
Ja, vor einer guten Stunde. Natürlich waren wir schon auf dem Friedhof. Keine Spur von den beiden.
Noch tragen Sie ja die Verantwortung und weniger die Verwandtschaft. Ja, gut, Frau Steiger, Sie bemühen sich ebenfalls und geben uns Bescheid, falls die Kinder bei Ihnen auftauchen sollten. Aber da habe ich eigentlich wenig Hoffnung. Wer geht schon freiwillig zurück in ein Waisenhaus? Der Junge ist immerhin schon acht Jahre. In dem Alter sind die Bengel oft recht abenteuerlustig und verfallen auf die tollsten Ideen. Na, dann Schluß für jetzt.«
»Auf Wiederhören, Herr Inspektor«, murmelte Frau Steiger gedankenschwer und legte den Hörer auf.
Sie streifte automatisch ihren Sommermantel von den Schultern, ließ sich hinter ihrem Schreibtisch in den Sessel fallen und dachte nach.
Hatte sie einen Fehler gemacht, weil sie die Krümel zurückbeordert hatte?
Fräulein Krümel wollte mit in die Wohnung, dachte die Amtsleiterin mit einem leisen Gefühl von Schuld. Sie meinte, es sei nicht ratsam, in die Verwandtschaft zu große Hoffnungen zu setzen, weil die Bindung der Kinder an Tanten und Onkel mehr als schwach sei.
Zögernd griff die Leiterin zum Telefon. Sie hatte einige Anweisungen zu geben, denn schließlich stimmte es, das Amt, das sie bekleidete, enthob sie ihrer Verpflichtung gegenüber den beiden Waisen erst, wenn diese voll in eine Familie eingegliedert waren.
Was heute hier geschehen war, durfte eigentlich nicht passieren.
Ich hätte auf die Krümel hören sollen, durchfuhr es Frau Steiger. Wir wissen doch mittlerweile, daß in solchen Fällen auf die Verwandten kaum gezählt werden kann.
Nicht zu fassen! Da verschwinden die Kinder unbemerkt aus der elterlichen Wohnung, in der immerhin vier Personen weilen, die vor diesem Schreibtisch standen und beteuerten, sie seien bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Man sei schließlich als Onkel und Tante dazu verpflichtet.
Seufzend