gut. War es nun die Freude, bei Nanni sein zu können und von Nannis Mutter liebevoll umsorgt zu werden, war es das Gefühl, befreit von allem Zwang zu sein, oder die Gesellschaft von Nick und Henrik, die ihr die Zeit vertreiben halfen und sie mit allerlei Scherzen zum Lachen brachten?
Nick begann von Sophienlust zu erzählen, doch anfangs hielt Rubinchen das alles für ein Märchen.
»Das gibt es wirklich«, erklärte Henrik. »Du musst es dir einmal ansehen. Ein Heim für Tiere haben wir auch. Unser Schwager ist nämlich Tierarzt.«
»Ist das wirklich wahr, Nanni?«, fragte Rubinchen, als Nanni eintrat.
»Freilich ist es wahr. Ich war schon selbst dort.«
»Fährst du mit mir auch einmal dorthin?«, fragte sie.
»Wir wollen sehen, Rubinchen. Nun lasst ihr beiden uns einmal allein. Ich muss Rubinchen etwas erzählen«, sagte Nanni zu den Schoeneckerbuben.
»Aber nachher müssen sie mir noch mehr erzählen, auch von dem Tierheim«, sagte Rubinchen.
»Was würdest du denn sagen, wenn dein Daddy dich besuchen kommt?«, lenkte Nanni sie schnell ab.
Keine jubelnde Freude, wie sie erwartet hatte, folgte.
»Mit ihr?«, fragte Rubinchen verschreckt.
»Doch nicht mit Lilo«, sagte Nanni tröstend.
»Ich meine doch die, die er heiraten will«, flüsterte das Kind. »Ich mag sie vielleicht gar nicht.«
Ein neues Problem tat sich für Nanni auf. »Würdest du dann lieber bei Tante Lilo bleiben?«, fragte sie.
Rubinchen schüttelte den Kopf.
»Dann würde ich lieber mit nach Sophienlust gehen«, sagte sie leise. »Bei dir werde ich nicht bleiben können.«
»Nein, das geht leider nicht«, erwiderte Nanni, »so gern ich es auch hätte. Aber ich habe meinen Beruf und am selben Ort mit Lilo – nein, Rubinchen, damit müssen wir uns abfinden, das ist nicht zu machen.«
»Frau von Schoenecker gefällt mir sehr gut«, meinte Rubinchen, »und wo du doch schon in Sophienlust warst, könntest du vielleicht noch dorthin gehen?«
»Das wäre vielleicht möglich, aber nun freue dich doch, dass dein Daddy kommt.«
»Ich weiß nicht, worauf ich mich noch freuen kann«, sagte Rubinchen bekümmert. »Wenn mir Yasmin nicht gefällt, kann ich mich nicht freuen, und wenn Daddy mich von dir wegnimmt, auch nicht, und wenn Tante Lilo mit den alten Sachen daherkommt, muss ich sogar weinen.«
»Was denn für alte Sachen, Rubinchen?«, fragte Nanni sanft.
»Dass Daddy sich nicht richtig um Ruth gekümmert hat, zum Beispiel. Ruth war meine Mama.«
»Ja, das weiß ich, Rubinchen. Ich habe sie gekannt.«
»Wenn du meine Mama gekannt hast, weißt du vielleicht auch, ob es stimmt, dass Daddy Lilo erst viel lieber hatte?«
»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Nanni und fand wieder einen Grund, Lilo Vorwürfe zu machen. Auf welche Arten mochte sie bloß versucht haben, sich das Kind gefügig zu machen? »Ich weiß nur, dass Ruth sehr glücklich war, als sie deinen Daddy heiratete, und sie war sehr hübsch.«
»Hast du Daddy da auch schon gekannt?«, fragte Rubinchen gedankenvoll.
»Nur ganz flüchtig, vom Sehen. Wir haben kaum ein paar Worte miteinander gesprochen. Ich war damals noch sehr jung, mein Kleines.«
Damit kam sie bei Rubinchen nicht an. »Du bist auch jetzt noch sehr jung, und ich finde es wunderschön, wenn man eine junge Mutti hat. Hast du eigentlich schon einen Mann, Nanni?«
»Nein, mein Kleines.«
»Aber du hast einen Hund und Eltern, und wenn ein Mann nie da ist, braucht man eigentlich auch keinen. Herr von Schoenecker ist immer da. Er ist ein richtiger Vater.«
Anscheinend wollte sie an sich selbst einen Widerstand gegen ihren Daddy erzeugen, und Nanni ahnte, dass dies daher kam, weil er wieder heiraten wollte. Sie konnte Rubinchen verstehen. Wahrscheinlich dachte sie nach ihren Erfahrungen mit Lilo daran, dass sie vom Regen in die Traufe kommen könnte, und solche Befürchtungen waren auch nicht einfach von der Hand zu weisen.
Lassen wir alles an uns herankommen, dachte sie, und sah dem Besuch von Jan Campen mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.
*
Alexander von Schoenecker wollte mit seinen beiden Söhnen am Samstagnachmittag noch ein Eishockeyspiel besuchen. Für Denise war das nichts. Sie leistete deshalb Rubinchen Gesellschaft, weil Nanni eine Patientin besuchen musste, die jede Woche auf diese Bewegungstherapie angewiesen war.
Während des Winters betreute Nanni nur ihre Stammkundinnen, denn da war die elterliche Pension meist voller Gäste, und sie musste ihrer Mutter zur Hand gehen.
Frau Hagen, die Nanni besuchte, war eine alte Freundin ihrer Mutter, eine sehr feine und gebildete alte Dame, mit der Nanni sich gern unterhielt. Ihr Mann war Diplomat gewesen, und sie war viel in der Welt herumgekommen. Ihr Sohn, Karlheinz, war Nannis Jugendfreund gewesen, der an Kinderlähmung gestorben war. Ein gerütteltes Maß von Leid hatte die einsame Frau zu tragen, und die Stunden, in denen Nanni bei ihr war, waren die schönsten in ihrem Leben.
Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. »Nicht böse sein, Tante Tresi, dass ich erst heute komme, aber bei uns hat sich allerlei getan.«
»Annemarie hat mich schon angerufen, Kindchen. Ich habe mich schon gesorgt um dich«, sagte Frau Hagen, und Nanni fand, dass sie heute besonders erschöpft wirkte. »Viel kannst du nicht mit mir anfangen, Nanni. Mir scheint eine Grippe in den Gliedern zu stecken. Aber ich alte egoistische Frau wollte dich gern wieder einmal sehen.«
»Ich werde bald wieder mehr Zeit haben, Tante Tresi. Wenn Rubinchen gesund ist und ihr Vater kommt, wird er sie wohl mitnehmen oder nach Sophienlust bringen.«
Frau Hagen ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Jan Campen – ich kann mich noch recht gut an ihn erinnern«, sagte sie gedankenverloren. »Eigentlich habe ich die beiden damals zusammengebracht. Wie seltsam das Leben doch spielt! Du kannst dich daran gewiss nicht mehr erinnern. Du warst ja noch im Internat. Jan Campen verbrachte hier einen Skiurlaub. Er wohnte bei mir. Ich hatte gern junge Menschen um mich, und damals war Karlheinz noch ein begeisterter Skiläufer. Meisterschaften wollte er gewinnen. Mein gutes Kind, nun wecke ich wieder traurige Erinnerung. Es tut mir leid.«
»Erzähl nur weiter, Tante Tresi. Ich habe nie wieder einen Jungen wie Karlheinz kennengelernt. Ich werde ihn nie vergessen.«
Frau Hagen streichelte ihre Wangen. »Es soll aber nicht der Anlass sein, dass du nie an ein eigenes Glück denkst, Nanni. Das Schicksal hat mir viel genommen, aber verbittert bin ich nicht, nur wehmütig. Ach ja, ich wollte doch erzählen, wie ich Jan Campen und Ruth zusammenbrachte. Ruth erledigte mir immer meine Besorgungen in der Stadt, und als sie an jenem Tag zurückkam, war ein Schneesturm wie neulich. Jan und Karlheinz waren noch nicht zurück vom Berg, und ich hatte natürlich Angst. Da blieb Ruth bei mir, und als die beiden dann kamen, versorgte sie die durchgefrorenen Burschen. Jan Campen muss das sehr gefallen haben, und er fragte mich, ob er Ruth nicht öfter sehen könne. Es war nicht einfach, denn Lilo hängte sich immer an sie. Sie dachte immer, sie würde sonst etwas versäumen. Sie haben sich dann schnell verlobt, die beiden, und als sie heirateten, war Karlheinz schon nicht mehr dabei.«
Ihre Stimme war immer leiser geworden. Auch Nanni spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie fühlte, dass die alte Dame in einer trübseligen Stimmung war, und das bereitete ihr Sorgen, denn Teresa Hagen verschonte ihre Umwelt sonst weitgehend mit ihren eigenen Problemen.
»Ich will dir nicht das Herz schwer machen, Kindchen«, sagte sie leise, »aber so langsam geht es auch mit mir zu Ende. Da wollte ich noch über einiges mit dir sprechen, Nanni. Du bist der einzige Mensch, der mir nahesteht. Du sollst alles bekommen, was ich hinterlasse.«
»Sprich doch bitte