Kinder ergriffen die Fähnlein und schwenkten sie fröhlich durch die Luft. Umringt von den jugendlichen Reitern setzte das Auto sehr langsam das letzte Stück der Fahrt fort.
»Wo steckt Sibylle?« Thilo Bach hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und fragte einen kleinen Reiter. Es war Henrik von Schoenecker.
»Billchen reitet nicht. Sie wartet zu Hause. Sie will Ihnen später etwas auf dem Flügel vorspielen.«
Der Ankömmling gab sich zufrieden.
»Ich habe dir schon angekündigt, dass du dich wundern wirst. Sophienlust ist eine einzigartige Einrichtung.« Bel lächelte Thilo an. »Du bist bestimmt noch nie von Reitern eingeholt worden wie ein Fürst im Mittelalter.«
Nun bog der Zug in die Einfahrt des Gutshauses ein.
»Dort steht Sibylle«, sagte Thilo Bach erfreut.
Billchen wartete mit Heidi und ein paar anderen kleinen Kindern. Auch dieses Grüppchen winkte nun mit Fähnchen.
»Wir begrüßen unseren hochberühmten Gast«, rief Nick begeistert aus. »Willkommen im Haus der glücklichen Kinder.«
»Ich danke euch vielmals. Das ist ein schöner Empfang.«
Thilo Bach stieg aus und ging auf Billchen zu, die ihm mit ausgebreiteten Ärmchen entgegenlief und ihre Fahne dabei verlor, ohne darauf zu achten.
Der blonde Mann hob das kleine Mädchen hoch in die Luft. »Grüß dich, Sibylle. Bei wem muss ich mich für die Einladung bedanken?«
»Sophienlust gehört Nick«, sagte Billchen. »Von ihm stammt auch die Idee, Sie einzuladen. Dort, der Junge auf dem großen Pferd, das ist er.«
»Er ist doch höchstens fünfzehn. Wie kann ihm dies alles gehören?«
In diesem Augenblick trat Denise am Arm ihres Mannes ins Freie. Sie hatte die letzten Worte gehört.
»Es ist richtig. Unser Junge ist der Eigentümer von Sophienlust, Herr Bach. Ich verwalte das Heim, bis er es selbst übernehmen kann, und mein Mann beaufsichtigt den Gutsbetrieb neben unserem Gut Schoeneich, das da drüben liegt. Dürfen wir uns dem Willkommensgruß der Kinder anschließen? Wir sind stolz auf Ihren Besuch und hoffen, dass es Ihnen und Fräulein von Wettering bei uns gefallen wird.«
Wie immer verstand es die schlanke liebenswürdige Denise, innerhalb weniger Augenblicke eine Atmosphäre der Herzlichkeit zu schaffen.
Die Reiter trabten davon, um ihre Pferde zu versorgen. Das gab den Übrigen ein wenig Zeit. Im Biedermeierzimmer machte man sich miteinander bekannt. Billchen wich keine Sekunde von Thilo Bachs Seite.
Die Gäste zeigten sich an allem, was das Heim betraf, interessiert. Thilo hatte sich auf Gut Wetterhof in reichlich vierzehn Tagen schon sichtbar erholt. Bel aber wirkte schöner denn je in ihrer Glückseligkeit.
Noch vor dem gemeinsamen Kuchenschmaus wurde das Haus besichtigt. Es folgte ein kurzer Rundgang durch den Park und ein kleiner Ausflug zu den Stallungen. Dann nahmen alle an den blumengeschmückten Tischen Platz.
Thilo Bach unterhielt sich angeregt mit Denise von Schoenecker sowie mit Andrea von Lehn, die ihm gegenübersaß. Billchen hatte den Platz an seiner Linken und konnte vor Aufregung gar nicht richtig essen.
Die größeren Mädchen füllten die Tassen nach und reichten die Torten herum. Die Stimmung stieg immer mehr, obwohl es nur Kaffee für die Erwachsenen und Kakao und Saft für die Kinder gab.
»Es scheint wahrhaftig ein Haus voller glücklicher Kinder zu sein«, stellte Thilo Bach fest. »Bist du gern hier, Sibylle?«
»Ja, sehr gern. Ich möchte für immer hierbleiben, Herr Bach. Schon wegen der Klavierstunden. Aber auch sonst. Sie verstehen mich schon.«
»Hm, ich verstehe dich. Hier kann man auf dem Gutshof herumtoben, im Park spielen oder im See schwimmen, wenn es warm genug ist. Es gibt große Wiesen und viele Tiere. Stadtkinder müssen solche Dinge entbehren und sehen sie höchstens mal in den Ferien.«
»Tante Andreas Mann ist Tierarzt«, plauderte Billchen eifrig. »Sie wohnen in Bachenau, ganz in der Nähe. Bei ihnen gibt es ein Heim der glücklichen Tiere. Das müssten Sie sich mal ansehen, Herr Bach.«
»Stimmt das – ein Tierheim?«
Andrea nickte. »Es ergab sich ganz von selbst. Wir sind allesamt große Tiernarren. So nahmen wir nach und nach einige verlassene Tiere auf. Hausherr ist der Dackel Waldi. Im übrigen haben wir eine recht zusammengewürfelte Gesellschaft. Eine Braunbärin mit ihren Jungen, ein Reh, einen Dachs, einen Igel, sogar eine Ringelnatter, dazu zwei ziemlich freche Schimpansen, zwei Esel, Füchse und so weiter.«
»Wer betreut denn diesen Privatzoo?«, warf Bel ein.
»Wir haben einen zuverlässigen Tierpfleger. Auch ich kümmere mich um die Tiere, die ein schönes Freigehege haben. Hin und wieder helfen uns die Kinder aus Sophienlust. Dafür pflegen wir ihre Goldhamster, Meerschweinchen, Katzen und Hunde, wenn sie krank sind.«
»Ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt kein Kinderheim, in dem man den Kindern erlaubt, sich eigene Tiere anzuschaffen. Das macht doch viel Arbeit.«
»Unsere Kinder sollen glücklich sein«, versetzte Denise freundlich.
»Wenn das Glück an einem Kanarienvogel oder einem Zwergkaninchen hängt, so sollte man das den Kleinen nicht verwehren. Im Allgemeinen betreuen sie ihre vierbeinigen und geflügelten Lieblinge ohne Hilfe und sehr gewissenhaft.«
»Erstaunlich«, murmelte Thilo Bach. »Sie lassen jede Neigung gelten. Wie kam es, dass Sie Sibylles Talent entdeckten?«
»Das war ein guter Ratschlag meines Mannes.« Denise nickte Alexander liebevoll zu. »Wir wussten nur, dass sie musikalisch ist.«
»Bei Tante Anita durfte ich nicht ans Klavier«, plauderte Billchen aus. »Aber wenn sie nicht da war, habe ich doch ein bisschen probiert. Wenn ich groß bin, möchte ich so spielen wie Sie.« Sie schenkte dem Künstler einen strahlenden Blick, in dem sich Liebe und Bewunderung ausdrückten.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du das schaffst, Billchen«, erwiderte Thilo Bach ernsthaft.
Bel schaute ihren Freund an und dann in das zarte Gesicht des kleinen Mädchens. Wieder fiel ihr auf, dass der Mann und das Kind die gleichen Augen zu haben schienen. Wahrscheinlich gibt es doch Musikeraugen, dachte sie.
Nun hob Frau Rennert die Nachmittagstafel auf. Ob Sibylle ihrem berühmten Freund jetzt etwas vorspielen dürfe, fragte Denise.
Das Kind hüpfte voraus ins Musikzimmer, dessen Türen weit geöffnet waren. Lampenfieber kannte Billchen nicht. Sie brannte darauf zu zeigen, was sie gelernt hatte.
Für die Erwachsenen standen Stühle bereit, die Kinder setzten sich ohne Umstände auf den blanken Parkettboden. Sibylle schaute Wolfgang Rennert fragend an und legte die kleinen Hände auf die Tasten, als er ihr zunickte.
Das fehlerfreie, taktsichere Spiel bereitete den Zuhörern großes Vergnügen. Sibylle kannte die Stücke auswendig und warf kaum je einen Blick in die aufgeschlagenen Noten, die der Musiklehrer für sie umblätterte.
Es gab herzlichen Beifall. Vor allem Bel zeigte sich begeistert. »Ich habe nicht gedacht, dass ein Mädchen von sieben Jahren so spielen kann«, gestand sie freimütig.
Thilo hob Sibylle hoch und küsste sie auf beide Wangen. »Mach so weiter, Sibylle. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Es wurde still. Sibylle setzte sich zwischen die Kinder auf den Boden, während der Künstler am Flügel Platz nahm.
Thilo begann mit bekannten Kinderliedern, improvisierte ein paar lustige Weisen und ging schließlich zu klassischen Stücken über, die er mit scheinbarer Mühelosigkeit in höchster Vollendung vortrug. Für die Erwachsenen war es ein erlesenes Kunsterlebnis. Sogar die Kinder spürten die Begegnung mit dem Einmaligen, mit echter musikalischer Größe.
Zum Abschluss intonierte Thilo Bach ein Lied nach Wunsch,