wollte antworten, als das Flugzeug einen Ruck machte. Sogar die Flugbegleiterin wurde überrascht und stolperte. Unvermittelt griff Ricarda nach Dr. Nordens Hand und umklammerte sie so fest, dass er vor Schmerz um ein Haar aufgeschrien hätte.
»Was war das?«, keuchte sie, Panik im Blick. »O mein Gott, das ist doch Wahnsinn, was ich hier tue! In diesem riesigen Haufen Blech hoch über den Wolken zu sitzen. Ohne Fluchtmöglichkeit. Keine Chance, einen Absturz zu überleben.«
In ihre Worte hinein gab es einen erneuten Stoß, der viel heftiger war als der erste. Diesmal war Ricarda nicht die einzige, die schrie. Auch andere Passagiere kreischten auf und umklammerten die Lehnen. Wie ein Stein stürzte das Flugzeug in die Tiefe. »Wir sterben! Wir müssen alle sterben!«, schrie Ricarda aus Leibeskräften. Taschen flogen umher, Getränke spritzten durch die Luft. Eine Flugbegleiterin war hingefallen und klammerte sich an einem Sitz fest.
Daniel schrie nicht. Doch auch aus seinem Gesicht sprach die Angst, während er sich nach vorn beugte und den Kopf mit den Händen schützte.
Ehe die Passagiere begriffen, was geschah, war auf einmal alles wieder normal. In die gespenstische Stille hinein rauschte und knackte der Lautsprecher.
»Sehr verehrte Fluggäste, hier spricht der Kapitän«, tönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher. »Wir sind von sogenannten Clear-Air-Turbulenzen überrascht worden. Wahrscheinlich bleibt es auch weiterhin etwas unruhig, zumal zusätzlich ein Sturmtief über Süddeutschland zieht. Es steht zu befürchten, dass wir nicht pünktlich landen können. Bitte bewahren Sie Ruhe. Ich melde mich wieder, sobald mir neue Informationen vorliegen.«
»Ruhe bewahren?« Verächtlich schüttelte Ricarda den Kopf und sah hinüber zu Daniel Norden, der auch wieder aufrecht in seinem Sitz saß. »Der Mann hat Humor.«
Doch ehe Dr. Norden etwas erwidern konnte, gab es einen weiteren Ruck. Der Horrorflug war noch nicht zu Ende.
*
An diesem Morgen waren die Zwillinge Jan und Dési und ihre große Schwester Anneka bei leichtem Regen und böigem Wind in die Schule aufgebrochen.
»O Mann, dabei wollte ich heute mit Tom und Luis ins Freibad«, meckerte Janni und zog die Kapuze seiner Regenjacke tiefer in die Stirn.
»Du gibst doch immer damit an, dass du dich nach Nervenkitzel sehnst und vor nichts und niemandem zurückschreckst«, war Dési nicht um eine spöttische Antwort verlegen. »Dann hast du heute die beste Gelegenheit, das zu beweisen. Vorausgesetzt natürlich, das Freibad fliegt nicht samt Inhalt davon.« Eine besonders wütende Böe riss ihr die Worte aus dem Mund und trieb sie vorwärts, dass sie stolperte.
»Der liebe Gott straft jede kleine Sünde sofort«, witzelte Janni, half Dési aber trotzdem wieder auf die Beine. »Mann, ich war noch nie so froh, in der Schule zu sein, wie jetzt«, erklärte er, als sie das schützende Schulgebäude endlich erreicht hatten. Er schüttelte sich, dass die Tropfen zu allen Seiten sprühten, und machte sich damit nicht gerade beliebt bei seinen Mitschülern.
»Hey, kannst du nicht aufpassen?«, fauchte eine Elftklässlerin ärgerlich, als sie an ihm vorbei hastete.
»Reg dich ab! Bei dir kann man eh nichts mehr verderben!«, rief ihr einer von Jannis Freunden frech nach. Er hatte es nur der vorgerückten Uhrzeit zu verdanken, dass er ungeschoren davon kam.
Lachend und scherzend machten sich die Jungs auf den Weg ins Klassenzimmer, wo Dési schon die Neuigkeiten des vergangenen Nachmittags mit ihren Freundinnen besprach.
Während es draußen immer dunkler wurde, begann der Unterricht.
»Kann mal einer das Licht anmachen?«, fragte der Lehrer Martin Müller. »Hier sieht man ja bald die eigene Hand vor Augen nicht mehr.«
»Muss das sein? So kann man doch viel besser schlafen«, ließ eine vorlaute Antwort nicht lange auf sich warten.
Alle lachten, einschließlich Herrn Müller.
»Schön, dass du dich freiwillig meldest, Paul.« Er hatte die Stimme seines Schülers erkannt, und murrend machte sich der junge Mann auf den Weg zur Tür.
Als er auf seinen Platz neben Jan Norden zurückkehrte, peitschte der Regen mit einer solchen Wucht an die Scheiben, als würde jemand mit kleinen Steinen um sich werfen. Allmählich wurde es auch dem frechen Paul unheimlich zumute. »Schau mal, da drüben der Mann«, machte Jan seinen Banknachbarn entsetzt auf einen Mann aufmerksam, der vor dem Fenster mit seinem Fahrrad einfach auf die Straße geweht wurde. Er hatte nur Glück, dass in diesem Augenblick kein Auto kam. Sonst wäre er glatt überfahren worden.
Doch Pauls Aufmerksamkeit galt einem anderen Ereignis.
»Unser Dach fliegt durch die Luft.« Mit leichenblassen Gesicht deutete er auf die Ziegel, die reihenweise auf dem Schulhof zerbarsten.
Gleich darauf machte Martin Müller dem Spektakel ein Ende.
»Rollläden schließen!«, rief er und bahnte sich einen Weg durch die Schüler, die in Trauben vor den Scheiben hingen und das Spektakel mehr oder weniger beeindruckt verfolgten. »Schnell!«
Beherzt griff Dési nach einer der Kurbeln und drehte in Windeseile die Jalousie herunter. Keinen Augenblick zu früh, wie der Knall bezeugte, der gleich darauf das Klassenzimmer erschütterte.
»Das ging ja gerade nochmal gut«, stöhnte der Klassenleiter sichtlich erleichtert auf.
Die meisten seiner Schüler waren ausnahmsweise einmal derselben Meinung. Nur Dési war ein schrecklicher Gedanke gekommen. Sie packte ihren Bruder so fest am Arm, dass Janni aufschrie.
»Aua! Bist du verrückt geworden?«, fragte er schroffer als beabsichtigt.
Doch diesmal störte sich seine Zwillingschwester nicht an seinem Kommentar.
»Hoffentlich ist Dads Flugzeug nicht aus London gestartet«, teilte sie ihre sorgenvollen Gedanken mit ihrem Bruder.
Daran hatte Jan noch gar nicht gedacht, und schlagartig wich alle Farbe aus seinem Gesicht.
»Ich ruf Mum schnell an. Vielleicht weiß sie was«, raunte er ihr seine Entscheidung zu. Im Normalfall war es verboten, in der Schule ein Mobiltelefon zu benutzen. Doch Martin Müller war gerade mit einer weinenden Mitschülerin beschäftigt, sodass Jan es trotzdem wagte. Er wartete vergebens auf eine Antwort. Die Leitung war tot.
*
Auch in der Praxis Dr. Norden hatten die beiden Assistentinnen Janine Merck und Annemarie Wendel, von allen nur Wendy genannt, und der junge Arzt Danny Norden alle Hände voll zu tun, um die wenigen Patienten zu beruhigen, die den Weg in die Praxis noch vor Ausbruch des Infernos gefunden hatten.
»Bitte regen Sie sich nicht auf. Hier sind Sie in Sicherheit«, versprach Danny den beiden Männern und der Frau, die eingeschüchtert im Wartezimmer zusammen gerückt waren. »Außerdem haben wir Beruhigungsmittel für ungefähr drei Wochen hier«, versuchte er, seinen Patienten die Anspannung mit einem Witz zu nehmen.
Der Versuch glückte, und die drei lachten, wenn auch verhalten.
»Ihr Vater kann stolz auf Sie sein«, lobte Katharina Herzog den jungen Arzt und lächelte warm.
Im Normalfall hätte sich Danny Norden ehrlich über dieses Kompliment gefreut. Doch im Augenblick überwogen die Sorgen, wenn er an seinen Vater dachte. Er hatte bereits mehrfach versucht, Daniel zu erreichen. Vergebens, und so blieb ihm im Moment nichts anderes übrig, als sich um die Patienten zu kümmern.
Endlich ließ der Wind nach und auch das Trommeln des Regens wurde weniger, sodass Janine es wagte, die Jalousien wieder hochzuziehen.
Durch eine Lücke in der tiefgrauen Wolkendecke fiel ein vorwitziger Sonnenstrahl auf den Boden. Doch selbst dieses hoffnungsvolle Bild konnte den Schrecken der ehemaligen Krankenschwester nicht mildern, als sie mit wenigen Blicken das ganze Ausmaß der Katastrophe erfasste. Der Orkan war vorbei gezogen und hatte eine Spur der Verwüstung hinter lassen. Überall lag Laub und Glasscherben. Äste waren abgebrochen, ganze Bäume entwurzelt und hatten Autos zertrümmert.