Emile Gaboriau

Der Strick um den Hals


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      »Das glaube ich nicht, mein Herr, wir sind davon getrennt durch Wald und Hügel ...«

      »Können Sie von hier aus die Glocken von Bréchy vernehmen?«

      »Wenn der Wind von Norden weht, ja, mein Herr!«

      »Und gestern abend? Und diese Nacht?«

      »Es war Westwind, wie immer, wenn es einen Sturm gibt.«

      »Also wissen Sie nichts – haben nichts von einem furchtbaren Ereignis gehört?«

      »Von einem Ereignis? ... Ich weiß nicht, was der Herr damit sagen will.«

      Dieses Verhör wurde im Hof abgehalten. Während der letzten Worte Antoines erschienen zwei Gendarmen zu Pferde, denen Herr Galpin-Daveline, als er Valpinson verließ, befohlen hatte, ihm zu folgen.

      »Mein Gott«, rief der alte Antoine, als er ihrer ansichtig wurde, »was soll das bedeuten? Ich eile, den Herrn zu wecken.« Der Richter aber hielt ihn zurück.

      »Nicht von der Stelle«, sagte er streng, »nicht ein Wort!«

      Er wandte sich dann zu den Gendarmen, die soeben abgestiegen waren, zeigte auf Ribot und sagte: »Ihr werdet jenen Burschen dort im Auge behalten und verhindern, daß er mit irgend jemand ein Wort wechselt.«

      »Und nun«, fuhr er wieder gegen Antoine gewendet fort, »führen Sie uns in das Zimmer des Herrn von Boiscoran.«

      8

      Mit all seinem Anstrich eines feudalen Rittersitzes war das Schloß von Boiscoran in Wahrheit doch nichts als das sogar ziemlich vernachlässigte Absteigequartier eines Junggesellen.

      Von den achtzig bis hundert Gemächern, die sich darin befanden, waren nur acht bis zehn möbliert, und noch dazu auf eine ziemlich bunt durcheinandergewürfelte Weise. Ein Salon, ein Speisegemach, einige Gastzimmer, das war alles, wessen Herr von Boiscoran bedurfte. Er selbst bewohnte in der ersten Etage ein ganz kleines Gemach, dessen Tür auf den Flur der großen Treppe hinausging.

      Als der Untersuchungsrichter, der Staatsanwalt und der Gerichtsschreiber Méchinet, von Antoine geführt, an diese Tür gelangten, befahl Herr Galpin-Daveline dem Kammerdiener anzuklopfen.

      Kaum hatte der wackere Mann gehorcht, als aus dem Innern eine junge kräftige Stimme rief: »Wer ist da?«

      »Ich bin es, Herr«, antwortete der treue Diener, »ich möchte ...«

      »Geh zum Teufel!« unterbrach die Stimme.

      »Ich möchte aber doch ...«

      »Laß mich in Ruhe, Quälgeist, ich bin erst gegen Morgen eingeschlafen!«

      Da schob der Untersuchungsrichter ungeduldig den Diener beiseite und versuchte, indem er die Türklinke ergriff, zu öffnen; aber das Zimmer war von innen verschlossen.

      »Ich bin es, Herr von Boiscoran«, rief er, »öffnen Sie!«

      »Ei sieh da, der gute Daveline!« klang es nun heiter aus dem Zimmer zurück.

      »Ich muß Sie dringend sprechen!«

      »Und ich stehe dem sehr hochgeehrten Herrn Beamten sofort zu Diensten! – Nur einen Augenblick, um meine apollinischen Formen mit dem Notwendigsten zu umhüllen, und ich erscheine!«

      Und in der Tat öffnete sich gleich darauf die Tür, und Herr von Boiscoran stand da mit ganz verworrenen Haaren, die Augen noch voller Schlaf, aber strahlend in Jugend und Gesundheit und mit lächelnden Lippen. Offen reichte er seine Hand hin.

      »Bei meiner Treu'«, sagte er, »das ist ja ein trefflicher Einfall, den Sie gehabt haben, bester Daveline, mich schon zum Frühstück aufzusuchen ...»

      Und Herrn Daubigeon begrüßend, fuhr er fort: »Ungerechnet, daß ich Ihnen noch danken muß, auch unsern lieben Staatsanwalt zur Begleitung veranlaßt zu haben! Das ist ja eine wahre Ausgießung des Gerichts!«

      Plötzlich aber hielt er inne, betroffen durch den Ausdruck, der sich in Herrn Daubigeons Zügen malte, und ebenso durch Herrn Galpin-Davelines Verhalten; der, statt in die dargebotene Hand einzuschlagen, einen Schritt zurücktrat.

      »Aber, zum Teufel – was ist denn vorgefallen, mein guter Freund?«

      Nie hatte der Untersuchungsrichter eine steifere Haltung gehabt, als da er jetzt sagte:

      »Wir müssen unsere Beziehungen vergessen, mein Herr. Es ist nicht der Freund, der heute vor Ihnen erscheint, sondern der Richter.«

      Herr von Boiscoran schien verwirrt, aber nicht der Schatten einer Unruhe verdüsterte seine offene, biedere Miene.

      »Ich will gehängt sein«, begann er, »wenn ich begreife ...«

      »Treten wir ein«, sprach Herr Daveline zu seinen Begleitern.

      Als sie die Schwelle überschritten, murmelte Méchinet Herrn Daubigeon ins Ohr: »Dieser Mann ist sicher unschuldig! Nie hätte ein Schuldiger uns so empfangen!«

      »Schweigen Sie, Herr!« entgegnete der Staatsanwalt in strengem Ton, obgleich er sich ganz geneigt fühlte, dem Aktuar beizustimmen. »Schweigen Sie!« – Und ernst und bekümmert stellte er sich in eine Fensterbrüstung.

      Herr Galpin-Daveline stand dagegen aufrecht mitten im Zimmer und bemühte sich, in seinem Geiste alles, bis auf den geringsten Gegenstand, auf das genaueste zu erforschen und zu beobachten.

      Die Unordnung, in welcher sich das Zimmer befand, bewies, mit welcher Hast Herr von Boiscoran sich abends zuvor niedergelegt. Seine Kleider, seine Stiefel, sein Hemd, seine Weste, sein Rock und sein Strohhut lagen bunt durcheinander auf den Möbeln und dem Fußboden.

      Die hellgrauen Hosen, welche er jetzt trug, waren dieselben, wie sie Cocoleu, Ribot, Gaudry und Frau Courtois bezeichnet hatten.

      »Jetzt, mein Herr«, hob Herr von Boiscoran im mißvergnügten Ton eines Mannes an, der nicht weiß, ob man ihn zum besten hat, »jetzt werden Sie mir, da Sie nicht mehr mein Freund sind, erklären, was mir die Ehre eines so frühen Besuches verschafft?«

      In Herrn Galpin-Davelines Antlitz regte sich kein Muskel.

      »Haben Sie die Güte, mein Herr, mir Ihre Hände zu zeigen«, sagte er kalt.

      Eine helle Röte überzog Herrn von Boiscorans Wangen; in seinen Augen malte sich eine seltsame Betroffenheit.

      »Wenn das ein Scherz ist«, fragte er, »so scheint mir, hat er lang genug gedauert.«

      Es war ersichtlich, daß er nahe daran war, in Zorn zu geraten. Herr Daubigeon glaubte, dem zuvorkommen zu müssen.

      »Unglücklicherweise, mein Herr«, sprach er, »gab es nie eine ernsthaftere Lage. Entsprechen Sie dem, was der Herr Untersuchungsrichter von Ihnen fordert.«

      Mehr und mehr in Staunen gesetzt, ließ Herr von Boiscoran seine Blicke schnell umherschweifen.

      An der Tür lehnte Antoine, der alte Kammerdiener, und die Seelenangst stand ihm auf der Stirn geschrieben. In der Nähe des Ofens hatte der