»so bitte ich Sie nun, mein Herr, mir zu erzählen, wie Sie den gestrigen Abend von acht Uhr bis Mitternacht verbracht haben. Übereilen Sie sich nicht; nehmen Sie sich Zeit nachzudenken, denn Ihre Antwort wird jedenfalls von entscheidender Bedeutung sein.«
Bis zu diesem Augenblick hatte Herr von Boiscoran seine Ruhe behalten; aber es war eine unheimliche Ruhe, die einen furchtbaren und nur mühsam zurückgehaltenen inneren Aufruhr verriet.
Die Warnungen des Richters und noch mehr der Ton, in dem sie gegeben wurden, empörten ihn ebenso wie dessen niedrige Heuchelei. Indem er es jetzt aufgab, sich noch länger zu zügeln, rief er mit blitzenden Augen:
»In der Tat, mein Herr, was wollen Sie von mir, wessen beschuldigt man mich?«
Herr Galpin-Daveline kam nicht aus seiner Ruhe.
»Wenn der Augenblick da ist, werden Sie es erfahren, mein Herr. Antworten Sie fürs erste, und glauben Sie mir, in Ihrem eigenen Interesse, antworten Sie aufrichtig. Was taten Sie gestern abend?«
»Ei! Was weiß ich! Ich bin spazierengegangen!«
»Das ist keine Antwort.«
»Es ist dennoch wahr. Ich bin ohne weiteren Zweck dem Zufall nachgegangen.«
»Das Gewehr auf der Schulter?«
»Ich trage mein Gewehr immer bei mir; mein Kammerdiener kann es Ihnen bezeugen.«
»Sind Sie nicht durch das Moor der Seille gegangen?«
»Nein!«
Der Untersuchungsrichter schüttelte mit einer ernsten Gebärde den Kopf.
»Sie sagen nicht die Wahrheit.«
»Mein Herr –«
»Ihre Stiefel, die ich dort unter Ihrem Bette stehen sehe, geben Ihnen den bestimmtesten Gegenbeweis. Woher der Schmutz, mit dem sie bedeckt sind?«
»Die Wiesen um Boiscoran sind sehr feucht.«
»Leugnen Sie nicht länger. Sie sind gesehen worden.«
»Was?«
»Der Sohn Ribots ist Ihnen begegnet, als Sie eben den Damm bei dem Teiche überschritten.«
Herr von Boiscoran antwortete nicht.
»Wohin gingen Sie?« fragte der Richter weiter.
Zum erstenmal verriet sich in den Zügen des Herrn von Boiscoran wirkliche Besorgnis; die Besorgnis eines Menschen, der plötzlich einen unvermuteten Abgrund unter seinen Füßen sich öffnen sieht.
Er zögerte, dann aber antwortete er, wohl einsehend, daß alles Leugnen vergeblich wäre: »Ich ging nach Bréchy.«
»Zu wem?«
»Zu dem Holzhändler, dem ich meinen Schlag von 1870 verkauft habe. Da ich ihn nicht zu Hause fand, bin ich auf der großen Straße zurückgekehrt.«
»Das ist falsch«, sprach Herr Galpin-Daveline, streng ihn mit einer Handbewegung unterbrechend.
»Wie?«
»Sie sind nicht nach Bréchy gegangen.«
»Erlauben Sie –«
»Und der Beweis ist, daß Sie gegen elf Uhr eiligen Schrittes durch den Wald von Rochepommier gegangen sind.«
»Ich?«
»Ja, Sie, mein Herr! Sagen Sie nicht nein, denn sehen Sie, Ihre Beinkleider sind noch ganz bedeckt mit den Ginsterdornen, welche Sie gestreift haben.«
»Der Ginster wächst nicht nur in den Wäldern von Rochepommier.«
»Das ist wahr, aber Sie sind dort gesehen worden.«
»Von wem?«
»Von Gaudry, dem Wilddieb. Er hat Sie so gut gesehen, daß er uns sogar Ihre Gemütsverfassung schildern konnte. Sie waren sehr erregt, sehr zornig; Sie fluchten, Sie rissen die Blätter von den Zweigen der Bäume herab. – Und hier haben Sie einen Beweis von Gaudrys Glaubwürdigkeit«, fuhr der Richter fort, indem er während des Gesprächs aufstand, den auf einem Lehnstuhl liegenden Rock des Herrn von Boiscoran ergriff, dessen Taschen durchwühlte und alsbald daraus eine Hand voll welker Blätter hervorzog.
»Es gibt Bäume und Blätter überall«, flüsterte Herr von Boiscoran.
»Ja, aber eine Frau Courtois hat Sie aus dem Walde von Rochepommier heraustreten sehen. Sie haben ihr geholfen, einen Sack, den sie selbst nicht aufheben konnte, wieder auf ihren Esel zu laden. Leugnen Sie es? Nein! Und Sie tun recht, denn sehen Sie, hier auf dem Ärmel und dort auf dem Kragen Ihres Rocks seh' ich weißlichen Staub liegen, und das ist nichts anderes als Mehl.«
Herr von Boiscoran senkte das Haupt.
»Gestehen Sie nun«, beharrte der Untersuchungsrichter, »daß Sie gestern zwischen zehn und elf Uhr in Valpinson gewesen sind?«
»Niemals, mein Herr; das war nicht der Fall!«
»Gleichwohl ist zu Valpinson, in der Nähe der alten Schloßruine, diese Patronenhülse von Klebb, die ich Ihnen soeben zeigte, aufgefunden worden.«
»Aber, mein Herr«, unterbrach Herr Boiscoran, »habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich unzählige Male gesehen, wie die Bauernkinder diese metallenen Hülsen aufgehoben haben, um damit zu spielen? – Übrigens«, fügte er hinzu, als ob er einzulenken suchte, »was hätte ich für ein Interesse, es zu leugnen, wenn ich in Valpinson gewesen wäre?«
Bei diesen Worten richtete Herr Galpin-Daveline sich in seiner ganzen Höhe empor und sagte im feierlichsten Ton: »Das will ich Ihnen sagen. Gestern abend ist Valpinson, von dem nichts mehr als Asche übrig ist, in Brand gesteckt worden.«
»Wie?«
»Gestern abend sind zwei Flintenschüsse auf den Grafen von Claudieuse abgefeuert worden!«
»Großer Gott!«
»Und die Justiz vermutet, die Justiz hat sehr starke Gründe, anzunehmen, daß Sie, Jacques von Boiscoran, der Brandstifter und der Mörder sind!«
9
Gleich einem Menschen, den ein plötzlicher Schwindel erfaßt, bleich, als wäre alles Blut aus seinen Adern zum Herzen zurückgeströmt, so schaute Jacques von Boiscoran mit bestürztem Blicke um sich. Er begegnete nur düstern und betroffenen Mienen.
Sein alter Kammerdiener Antoine hielt sich schwankend an der Tür. Der Gerichtsschreiber Méchinet stand vor Schrecken mit offenem Munde da. Herr Daubigeon hatte den Kopf gesenkt.
»Es ist schrecklich«, murmelte er, »schrecklich!«
Er sank schwer in einen Lehnstuhl, mit beiden Händen das Schluchzen niederpressend, welches ihm die Brust zu sprengen drohte. Nur Herr Galpin-Daveline erschien unbewegt.
Das Gesetz, als dessen achtunggebietende Verkörperung er sich ansah, läßt sich nicht rühren. Ein eigentümliches Kräuseln