Emile Gaboriau

Der Strick um den Hals


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»Feuer« ruft. Die Spritzen erscheinen, das Wasser strömt wie durch Zauberkraft herbeigeschafft.

      Der Bauer dagegen kennt und fürchtet die Gefahren seiner Einsamkeit. Ein einfacher Holzriegel schließt seine Hütte. Wird er von einem Mörder überrascht, so verhallt sein Geschrei, wenn er um Hilfe ruft, ohne gehört zu werden. Wenn sein Haus in Brand gesteckt wird, so liegt es vielleicht schon in Asche, ehe die erste Hilfe naht; und er muß sich glücklich schätzen, wenn es ihm gelingt, sich selbst und die Seinigen aus den Flammen zu retten.

      Durch Herrn Sénéchals Worte in Erregung versetzt, machten sich auch die Bauern jetzt mit fieberhaftem Eifer daran, denjenigen aufzufinden, der, wie sie meinten, etwas wissen mochte: den Cocoleu.

      Sie kannten ihn alle und seit langer Zeit.

      Es war nicht einer unter ihnen, der ihm nicht ein Stück Brot oder einen Löffel Suppe gegeben hätte, wenn ihn hungerte; nicht einer, der ihm nicht einen Bund Stroh in irgendeinem Winkel seiner Ställe überlassen hätte, wenn es regnete oder kalt war und er schlafen wollte. Denn Cocoleu war einer jener Unglücklichen, welche irgendein fürchterliches Gebrechen, physischer oder moralischer Natur, mit sich durchs Leben schleppen.

      Es war vor einigen zwanzig Jahren, da hatte ein wohlhabender Besitzer von Bréchy für die Bauten, die er errichten ließ, ein halbes Dutzend Dekorationsmaler aus Angoulême kommen lassen, die fast den ganzen Sommer bei ihm verbrachten.

      Einer dieser Maler hatte ein armes Mädchen namens Colette aus der Umgegend der Pächterei verführt. Aber dann war der Verführer mit seinen Kameraden auf und davon gezogen, ohne sich um die Unglückliche mehr zu kümmern als um die letzte Zigarre, die er geraucht.

      Und doch war sie in gesegnetem Zustande.

      Als sie ihre Umstände nicht mehr verbergen konnte, wurde sie aus dem Hause, wo sie gedient, zur Tür hinausgewiesen, und ihre Eltern, die selbst kaum ihr Dasein fristen konnten, verstießen sie unbarmherzig.

      Von da an irrte sie, durch Kummer, Schande und Reue fast stumpfsinnig geworden, um Almosen flehend, beleidigt, verspottet, zuweilen selbst mißhandelt, von Haus zu Haus. In einer entlegenen Waldecke brachte sie an einem Winterabend, verlassen, ohne Hilfeleistung, einen Knaben zur Welt. Wie war es aber nur möglich, daß Mutter und Kind nicht vor Hunger, Kälte und Elend umkamen? – Es geschehen gleichwohl derartige Wunderdinge, die unbegreiflich bleiben.

      Während mehrerer Jahre sah man sie in ihren Lumpen in der Gegend von Sauveterre herumziehen, von der schwer erkauften Großmut der Bauern lebend. Dann starb die Mutter verlassen, wie sie gelebt hatte. Vom Rande eines Grabens las man eines Morgens ihren Leichnam auf.

      So war das Kind allein geblieben. Es stand im Alter von acht Jahren und sah verhältnismäßig stark aus. Ein Pächter erbarmte sich seiner und gab ihm seine Kühe zu hüten.

      Das kleine, unglückliche Geschöpf aber war dessen nicht fähig.

      Als er noch bei seiner Mutter war, schrieb man seine Stummheit, seine verstörten Blicke, die Gebärden eines gehetzten Wildes, die er an sich hatte, seinem wilden Leben zu. Aber als man anfing, sich mit ihm zu beschäftigen, sah man, daß in dem armen, verwahrlosten Gehirn keine Spur von Intelligenz sich entwickelt hatte.

      Er war schwachsinnig und überdies einer jener entsetzlichen nervösen Krankheiten unterworfen, die den ganzen Körper, besonders aber die Gesichtsmuskeln in krankhafte Zuckungen versetzen.

      Er war nicht stumm, aber nur unter unerhörten Anstrengungen und unter jämmerlichem Stottern gelang es ihm, einige Silben zu artikulieren.

      Zuweilen, um sich einen Spaß zu machen, riefen die Bauern ihm zu: »Sag uns, wie du heißt, du sollst einen Groschen dafür bekommen.«

      Dann dauerte es wohl fünf Minuten, bis er unter allerlei Grimassen den Namen seiner Mutter hervorstotterte: » – Co ... co ... co ... lette.«

      Daher sein Spitzname.

      Man war darüber einig geworden, daß er zu nichts taugte; man hörte auf, sich für ihn zu interessieren. – Er fing wieder an, wie früher umherzuvagabundieren.

      Es war um diese Zeit, daß der Doktor Seignebos ihm eines Morgens auf der Hauptstraße begegnete.

      Unser vortrefflicher Doktor behauptete damals unter anderen außergewöhnlichen Theorien, der Schwachsinn sei nichts als eine gewisse Eigentümlichkeit des Gehirns, ein Vergessen der Natur, das durch gewisse Substanzen, zum Beispiel Phosphor, leicht behoben würde. Die Gelegenheit, ein denkwürdiges Experiment zu machen, war zu günstig, als daß er sie nicht begierig ergriffen hätte.

      Er ließ Cocoleu neben sich in sein Kabriolett steigen, quartierte ihn in seinem Hause ein und unterwarf ihn einer Behandlung, deren Geheimnis zwischen ihm und einem für seine seltsamen Ansichten in Sauveterre bekannten Apotheker geblieben ist.

      Nach achtzehn Monaten hatte Cocoleu zusehends abgenommen. Er sprach vielleicht etwas weniger schwerfällig, aber in seinem Denkvermögen ließ sich kein merklicher Fortschritt spüren.

      Auf sein Resultat verzichtend, machte der Doktor ein Bündel aus den wenigen Sachen, die er seinem Pflegebefohlenen geschenkt, gab es ihm in die Hand und warf ihn hinaus, indem er ihm verbot, jemals wiederzukommen.

      In der Tat ein trauriger Dienst, den er so dem Cocoleu geleistet.

      Der Entbehrungen entwöhnt, sowie des Wanderns von Haus zu Haus, um sein Brot zu erbetteln, wäre der arme Blödsinnige aus Not umgekommen, hätte sein guter Stern ihn nicht nach Valpinson geführt.

      Durch sein Elend gerührt, beschlossen der Graf und die Gräfin von Claudieuse, sich seiner anzunehmen.

      Vergebens versuchten sie, ihn in einer ihrer Meiereien festzuhalten, wo sie ihm ein Bett geben ließen. Cocoleus Vagabunden-Natur trug den Sieg über alles, selbst über den Hunger davon. Im Winter, bei Schnee und Kälte, hielt man ihn noch zurück. Aber beim ersten Grün des Frühlings unternahm er von neuem seine Wanderungen kreuz und quer durch Wald und Feld und ließ sich dann wochenlang nicht sehen. Mit der Zeit aber entwickelte sich doch etwas in ihm, gleich dem Instinkt eines mit Geduld dressierten Haustieres.

      Seine Anhänglichkeit für Frau von Claudieuse äußerte sich, wie bei einem Hunde, durch Freudengeschrei und Sprünge, sobald er ihrer ansichtig wurde. Ebenso liebte er die beiden kleinen Mädchen und schien darunter zu leiden, daß man sie von ihm entfernt hielt; denn man erlaubte ihm die Annäherung nicht, weil man bei so zarten Kindern die Ansteckung seines nervösen Leidens fürchtete.

      Mit der Zeit war er sogar fähig, einige kleine Dienstleistungen zu verrichten. Es gab gewisse Besorgungen, die man ihm auftragen konnte. Er begoß die Blumen, man schickte ihn hin und wieder nach einem Dienstboten; er wußte einen Brief richtig auf die Post nach Bréchy zu bringen.

      Diese Fortschritte waren sogar fühlbar genug, um in einigen mißtrauischen Bauersleuten allerlei Zweifel zu erregen; sie behaupteten, Cocoleu sei gar nicht so unschuldig, wie er aussehe; er sei ganz im Gegenteil ein Spitzbube, der den Einfältigen spiele, um ohne Arbeit leben zu können ...

      »Da haben wir ihn«, riefen plötzlich einige Stimmen. »Da – da ist er!«

      Die Menge teilte sich hastig; zu gleicher Zeit erschien ein junger Bursche, von mehreren Männern gehalten und vorwärts gestoßen.

      »Er hatte sich dort in einer Hecke versteckt und wollte nicht kommen ... der Hund!«

      Die Unordnung, in der sich Cocoleus Kleider befanden, bezeugte in der Tat einen