Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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– hat­te den wil­den Schmerz, die stür­mi­sche Zärt­lich­keit nicht vor­aus­ge­se­hen. Das war ein Kampf – ein ent­setz­li­cher, der ihr die See­le zer­riss, wäh­rend die Brust nach Atem rang.

      Sie glaub­te, es müs­se wie­der ein Blutstrom quil­len und ihre Qual en­den. Aber es lös­te sich nur ein zä­her Schleim, und dann be­ru­hig­te sich der An­fall.

      Sie war see­lisch tief er­regt, und von dem Schweiß der Schwä­che über­gos­sen, mit strö­men­den Trä­nen bat sie Papa und Mama, ihr den Ab­schied nicht so schwer zu ma­chen – sie möch­te ja so ger­ne ster­ben, und es wäre ja gut so. Und sie hät­ten ja doch noch Wal­ter und Eu­ge­nie, Eu­ge­nie wür­de ih­nen auch eine gute Toch­ter sein.

      End­lich schlief sie sit­zend, die Arme um ih­res Va­ters Hals ge­schlun­gen, den Kopf an sei­ne Schul­ter ge­lehnt, vor Er­schöp­fung ein. Und er hielt sie so, wohl eine Stun­de lang.

      Als sie auf­wach­te, sah sie aus ver­wor­re­nen Träu­men beim Schein des Nacht­lich­tes noch im­mer die bei­den Ge­sich­ter angst­voll und mit ver­zwei­fel­ter Lie­be auf sich ge­rich­tet.

      Trau­rig lä­chelnd leg­te sie sich auf die Kis­sen zu­rück und ließ sich bet­ten und zu­de­cken.

      Nein – sie durf­te nicht ster­ben – sie muss­te schon le­ben wol­len.

      Heim­lich mein­te sie: wenn sie es auch ver­such­te, Gott wür­de ihr Op­fer ver­ste­hen und wür­de wohl Ein­se­hen ha­ben.

      Der alte Haus­arzt schi­en am fol­gen­den Mor­gen durch die Schil­de­rung des nächt­li­chen Schre­ckens nicht son­der­lich be­un­ru­higt. Er mein­te, die Hei­lung ma­che gute Fort­schrit­te, und das wer­de der letz­te An­fall ge­we­sen sein.

      Nach vier­zehn Ta­gen durf­te Aga­the wie­der auf­ste­hen, soll­te gute Beefs­teaks und Schwarz­brot es­sen, Milch und Bier trin­ken, spa­zie­ren ge­hen oder doch in der Luft sit­zen und lie­gen.

      Es fan­den jetzt täg­lich Be­ra­tun­gen zwi­schen den Ver­wand­ten und den El­tern statt, wo­hin man im Som­mer mit ihr ge­hen kön­ne und ob nicht für den nächs­ten Win­ter ein Auf­ent­halt im Sü­den an­ge­zeigt sei. Aga­the hör­te um sich her die be­kann­ten Na­men: Gör­bers­dorf – Da­vos – Meran. Na­tur- und Kalt­was­serärz­te wur­den vor­ge­schla­gen und ein sehr be­rühm­ter Mann, der nach ei­nem Me­tall­stück, das der Kran­ke ei­ni­ge Zeit am Lei­be ge­tra­gen, die er­folg­reichs­ten Ku­ren ver­ord­ne­te. In je­dem Brie­fe, den die Mama von ih­ren Freun­den emp­fing, wur­de ihr ein neu­es Heil­mit­tel an­ge­prie­sen und auch gleich zu­ge­schickt. Heu­te soll­te Aga­the Ge­lee von Schne­cken es­sen, mor­gen sich mit Ha­sen­fett ein­rei­ben und über­mor­gen Esels­milch trin­ken.

      Schließ­lich schrieb der Re­gie­rungs­rat doch an eine be­kann­te Grö­ße auf dem Ge­bie­te der Lun­gen- und Brust­krank­hei­ten. Als der Pro­fes­sor ant­wor­te­te, es tref­fe sich gut, er habe eine Pa­ti­en­tin in je­ner Ge­gend zu be­su­chen und kön­ne da­mit einen Ab­ste­cher nach Bor­nau ver­bin­den, wirk­te das wie eine Er­lö­sung auf die El­tern.

      Aga­the selbst sah der Un­ter­su­chung in schwan­ken­der Stim­mung ent­ge­gen. Sie hat­te kei­ne Lust mehr zum Le­ben und kei­ne Freu­dig­keit mehr zum Tode. Ein lan­ges Lei­den mit den Sta­tio­nen schein­ba­ren Wohl­be­fin­dens da­zwi­schen – der Jam­mer von Papa und Mama ins End­lo­se hin­aus­ge­zo­gen – das war doch ganz an­ders schreck­lich als ein leich­tes, fried­li­ches Ein­schla­fen. Sie sah die ihr dro­hen­de Krank­heit nicht mehr in ei­ner ro­man­ti­schen, son­dern in ei­ner trü­ben, kläg­li­chen Be­leuch­tung, sie sah plötz­lich al­les Wi­der­li­che, Unäs­the­ti­sche, Pein­vol­le. Seit es ihr wie­der bes­ser ging, war sie über­haupt nicht mehr in der sanf­ten, ver­klär­ten Ge­müts­ver­fas­sung, son­dern un­ge­dul­dig, leicht zur Hef­tig­keit und zu Trä­nen ge­reizt.

      Sie ver­such­te, sich durch Le­sen von Psal­men und durch Ge­bet zu be­ru­hi­gen. Ihre See­le in den Wil­len des Herrn zu er­ge­ben – ach, das war das ein­zi­ge, was ihr hel­fen konn­te. Aber sie glaub­te end­lich, still ge­wor­den zu sein, so merk­te sie dar­an, dass sie kei­nen Bis­sen fes­te Nah­rung her­un­ter­schlu­cken konn­te und dass ihre Hän­de von ei­ner un­an­ge­neh­men Feuch­tig­keit be­deckt wa­ren, wie frucht­los ihr Mü­hen blieb.

      Der alte Rat kam schon vor dem Pro­fes­sor in sei­nem ei­ge­nen Wa­gen. End­lich er­schi­en auch der be­rühm­te, er­war­te­te und ge­fürch­te­te Gast.

      Aga­the be­fand sich mit den El­tern in der großen Wohn­stu­be. Auch Tan­te Mal­wi­ne war ge­gen­wär­tig und Cou­si­ne Mimi, weil der Vor­gang sie, ih­res künf­ti­gen Be­ru­fes we­gen, doch sehr in­ter­es­sier­te. On­kel Au­gust emp­fing den Pro­fes­sor un­ten auf der Trep­pe, ge­lei­te­te ihn hin­auf und übergab ihn dem Re­gie­rungs­rat. Al­les war un­be­schreib­lich fei­er­lich – wie bei ei­ner Ge­richts­sit­zung.

      Der Pro­fes­sor schi­en et­was er­staunt durch die zahl­rei­che Fa­mi­lie.

      »Ach – wel­ches ist die Pa­ti­en­tin?« frag­te er, in­dem er rings­um grüß­te und dem Kol­le­gen die Hand schüt­tel­te.

      Aga­the er­hob sich zit­ternd.

      Er sah sie scharf an. Ein zwer­gen­haft klei­ner, blei­cher Mann. Be­quem in einen Lehn­ses­sel zu­rück­ge­legt, die Hän­de be­hag­lich ge­fal­tet, ließ er sich er­zäh­len, wie der Fall sich er­eig­net habe, wie alt Aga­the sei, wel­che Krank­heit sie durch­ge­macht habe, – auch das Al­ter ih­rer El­tern und ihr Ge­sund­heits­zu­stand wur­de ge­nau ge­prüft, und be­son­ders frag­te er, ob schon Fäl­le von Tu­ber­ku­lo­se in der Fa­mi­lie vor­ge­kom­men sei­en. Nein, das war durch­aus nicht der Fall. Frau Heid­ling be­ant­wor­te­te al­les mit der hei­te­ren Stim­me der angst­vol­len Zei­ten.

      End­lich ver­ließ der Re­gie­rungs­rat das Zim­mer.

      »Sie sind sehr ein­drucks­fä­hig«, sag­te der Pro­fes­sor, das Ohr an Aga­thes Brust ge­legt … »ganz un­ge­wöhn­lich ein­drucks­fä­hig.« Den Kopf er­he­bend, dicht vor ih­rem Ge­sicht, und den ma­gern Hals be­trach­tend, in den die letz­ten Wo­chen förm­li­che Lö­cher ge­gra­ben hat­ten, frag­te er: »Ha­ben Sie sich vor die­sem An­fall hef­tig al­te­riert?«

      »Ja«, hauch­te Aga­the, und eine dun­kel­ro­te Blut­wel­le färb­te ihr Hals und Bu­sen.

      »Wann – wenn ich fra­gen darf?«

      »Am Tage vor­her.« Sie zit­ter­te stär­ker, ihr Herz schlug qual­voll hef­tig.

      »Kind – da­von hast Du mir ja gar nichts ge­sagt«, be­gann ihre Mut­ter vor­wurfs­voll.

      Der Pro­fes­sor warf der Rä­tin einen schnel­len, zur Vor­sicht mah­nen­den Blick zu.

      »Ich dach­te es mir«, be­merk­te er ru­hig. »Das er­klärt die Sa­che. So – nun wol­len wir ein­mal auf der an­de­ren Sei­te klop­fen … Die Wun­de ist üb­ri­gens sehr gut ge­heilt.«

      Der alte Sa­ni­täts­rat er­hielt ein Kopf­ni­cken.

      Aga­the leg­te ihr Kleid wie­der an und die Ärz­te zo­gen sich zu ei­ner Be­ra­tung zu­rück.

      Der Re­gie­rungs­rat und On­kel Bär sa­hen zur Tür her­ein.

      »Was hat er ge­sagt?«

      Man zuck­te mit den Schul­tern und zeig­te nach der Tür, hin­ter