Gabriele Reuter

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke


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und Schö­ne ent­stieg.

      Vi­el­leicht be­trach­te­te nur ein Mensch die lie­bens­wür­di­ge Hei­ter­keit der jun­gen Frau Heid­ling, die alle Welt ent­zück­te, mit schwei­gen­der Ver­ach­tung, und das war ihre Schwä­ge­rin.

      Seit Aga­the sich ganz dem Le­ben der Pie­tät, der Selb­st­auf­op­fe­rung und der Ent­sa­gung hin­ge­ge­ben hat­te, wur­de sie streng im Ur­teil über ihre Nächs­ten, die nicht dem­sel­ben Ide­al her­ber Pf­licht­er­fül­lung folg­ten.

      »Mit Aga­the ist rein nichts mehr an­zu­fan­gen«, er­klär­te Eu­ge­nie. »Sie liest den gan­zen Tag in der Bi­bel, wenn sie nicht in der Sonn­tag­schu­le ist oder ihre Ar­men be­sucht. Es ist wirk­lich scha­de um das Mäd­chen!«

      »Letz­ten Mitt­woch ist sie so­gar in der Bet­stun­de bei den Je­sub­rü­dern ge­we­sen«, sag­te Lis­beth Wend­ha­gen, »drau­ßen hin­ter den Scheu­nen, wo Flei­scher­meis­ter Un­ver­zagt pre­digt! denkt Euch doch nur …!«

      »Wenn Papa das wüss­te, der wür­de sie!« sag­te Eu­ge­nie la­chend. »Kin­der – der di­cke Aman­dus Un­ver­zagt als Beicht­va­ter für zer­knirsch­te Mäd­chen­see­len! Nein, Wal­ter, wir dür­fen wirk­lich nicht lei­den, dass Aga­the sich durch ihre Bi­got­te­rie zum Ge­spött der Leu­te macht.«

      Eu­ge­nie be­gann in­fol­ge die­ser schwes­ter­li­chen Er­wä­gung Aga­the, so­bald sie ihr be­geg­ne­te, mit ih­ren Je­sub­rü­dern zu ne­cken. Als das Mäd­chen zu den jun­gen Heid­lings kam und Wölf­chen aus dem Wa­gen he­ben woll­te, um mit ihm zu spie­len, riss Eu­ge­nie ihr den Klei­nen fort, rümpf­te die Nase und sag­te: »Ich mag nicht, dass Du ihn trägst – wer weiß, was Du uns für Krank­hei­ten von den Un­ge­zie­fer-Kin­dern Dei­ner ar­men Leu­te ins Haus bringst.«

      Sie drück­te ih­ren Kna­ben mit ei­ner stol­zen Mut­ter­be­we­gung an ihre Brust und ließ ihn fern von Aga­the in ih­ren Ar­men auf- und nie­der­tan­zen, als habe sie ihn sieg­reich ei­ner großen Ge­fahr ent­zo­gen.

      Aga­the schos­sen die Trä­nen in die Au­gen. Doch de­mü­tig­te sie sich so weit, Eu­ge­nie fle­hent­lich zu bit­ten, sol­che Be­mer­kun­gen we­nigs­tens nicht in Ge­gen­wart von Papa zu ma­chen.

      Abends in ih­rem Zim­mer lag Aga­the hal­be Stun­den lang auf den Kni­en und be­te­te mit Schluch­zen und Wei­nen, der Herr möge sie stär­ken, das klei­ne Mar­ty­ri­um, das Eu­ge­nie ihr auf­leg­te, in Ge­duld zu tra­gen, wie sie um sei­net­wil­len so vie­les ver­such­te – auch die Ar­men­be­su­che – auch die heim­li­chen Gän­ge zu den Je­sub­rü­dern.

      Mit Angst und Verzweif­lung fühl­te sie, dass die dump­fe, un­kla­re Ab­nei­gung ge­gen Eu­ge­nie zum Hass wur­de – zu ei­nem Hass, so tief, so gif­tig und so bit­ter, wie nur zwi­schen al­ten Freun­den und na­hen Ver­wand­ten, die sich sehr gut ken­nen und sehr viel ver­keh­ren müs­sen, ge­hasst wird.

      Wie konn­te das ge­sche­hen? Wel­che bö­sen schreck­li­chen In­stink­te trie­ben da ihr We­sen? Ihr gan­zes Ge­müt soll­te doch von der Lie­be zum Hei­land und zum Nächs­ten er­füllt sein … Und sie hat­te nicht ein­mal ver­stän­di­ge Grün­de, Eu­ge­nie zu has­sen. – Eu­ge­nie war ja die ein­zi­ge, die freund­lich ver­sucht hat­te, – da­mals – ihr Lutz nahe zu brin­gen … Ja – um das Ver­gnü­gen zu ha­ben, so ein kal­tes, grau­sa­mes Ver­gnü­gen, ihre stum­me Qual zu be­ob­ach­ten … sag­te so­fort eine schar­fe höh­ni­sche Stim­me in ihr – um Lutz ins ei­ge­ne Haus zu lo­cken – und wenn er nur ge­wollt hät­te … aus über­quel­len­der See­len­gü­te für Aga­the hat­te Eu­ge­nie ihm wohl nicht die No­ten­blät­ter vor die Füße ge­streut.

      Wa­rum – warum ver­trau­te ihr Aga­the nur … sie schäm­te sich, dach­te sie nur dar­an. Sie war ja da­mals über­haupt nicht zu­rech­nungs­fä­hig – sie war wie ver­zau­bert.

      Aber die Ge­walt, un­ter der sie ge­lit­ten, war nun ge­bro­chen – sie war be­freit – Got­tes Kind – des Herrn Magd. O süße hel­le Se­lig­keit – in sei­ne Wun­den zu tau­chen – von sei­nem Blu­te sich über­strö­men zu las­sen – zu ver­ges­sen – al­les – al­les – nur sein Er­lö­ser­au­ge zu se­hen – ein­sam über dem Cha­os von Elend – Ent­täu­schung und Not … Ein­gehüllt von sei­ner Lie­be – ge­bor­gen an sei­nem flam­men­den Lie­bes­her­zen – hin­ge­ge­ben – auf­ge­löst – sich ver­ge­hen füh­len un­ter den Schau­en sei­ner Gna­de …

      *

      Mit Papa und Mama ging Aga­the alle vier­zehn Tage in den Dom. Man brauch­te sich nicht zu ei­len, um zu rech­ter Zeit zu kom­men. Stan­den auch un­zäh­li­ge Men­schen in den Gän­gen – ihre Bank blieb leer, bis Aga­the das klei­ne Tür­chen mit dem Schlüs­sel, den sie aus ih­rer Klei­der­ta­sche nahm, öff­ne­te.

      Bei der Pre­digt ver­gos­sen vie­le von den äl­te­ren Frau­en Trä­nen, ei­ni­ge schlum­mer­ten auch. Und nach Schluss des Got­tes­diens­tes be­grüß­te man sich vor den Kirchtü­ren, gähn­te ein we­nig, stand in klei­nen Grup­pen mit den Be­kann­ten zu­sam­men und freu­te sich, wenn der Pas­tor recht er­grei­fend ge­re­det hat­te. Aga­the be­merk­te, dass die meis­ten der äl­te­ren Herr­schaf­ten dann schon nicht mehr als ein­zel­ne Wor­te aus der Pre­digt be­hal­ten hat­ten. Die jun­gen Mäd­chen und Frau­en schwatz­ten gleich drauf los von Schlitt­schuh­lau­fen und Ge­sell­schaf­ten und Bäl­len. Die Re­fe­ren­da­re und Lieu­ten­ants be­nutz­ten die Ge­le­gen­heit, um sich der be­lieb­tes­ten Tän­ze­rin­nen für die ers­ten Wal­zer zu ver­si­chern. Sie gin­gen nur dann re­gel­mä­ßig zum Got­tes­dienst, wenn sie eine Flam­me hat­ten, der sie dort be­quem be­geg­nen konn­ten.

      Da­rum war Aga­the zu den Je­sub­rü­dern ge­kom­men: sie hoff­te hier eine tiefe­re, stren­ge­re An­dacht zu fin­den, als zwi­schen den herr­lich auf­stre­ben­den Säu­len, den kunst­vol­len Stein-Ge­wöl­ben des Do­mes, wo die gute Ge­sell­schaft von der in Gold und Sam­met strot­zen­den Kan­zel her­ab in ge­wähl­ter, sal­bungs­vol­ler Spra­che die Mah­nung emp­fing, ihr Kreuz auf sich zu neh­men und der Welt und ih­ren Lüs­ten zu ent­sa­gen.

      Be­schei­den ge­nug fand Aga­the es ja bei den Je­sub­rü­dern. Um zu ih­rem Bet­saal zu ge­lan­gen, muss­te man von der Stra­ße einen lan­gen feuch­ten und dunklen Gang zwi­schen Spei­chern und Scheu­nen ent­lang wan­dern – der glich wirk­lich recht der en­gen Pfor­te, die zum Him­mel­reich führt. Dann kam man auf einen schmut­zi­gen Hof, wa­cke­li­ge Stei­ne zeig­ten den schlüpf­ri­gen Weg durch tie­fe La­chen übel­rie­chen­der Flüs­sig­keit, die sich von großen