aber man is ja ein Christenmensch, un auf die Straße werf’ ich kenen, ne Freilein, da soll mich Gott vor bewahren, un man tut ja auch gern den Weg un läuft vor so ’n armes Mächen, und erst könnt’ ich die Nummer nich finden …«
»Woran ist das Kind gestorben?« fragte Agathe ungeduldig.
Die Alte hob die Augen wehleidig zum Himmel. »So ’n Engelchen«, jammerte sie mit einer unangenehmen Sentimentalität, »ich hab’s immer gesagt, Luise, hab ich bei sie gesagt, der Wurm verhungert Dir noch. Freilein – unsereens – weeß Gott, mer hat selber seine liebe Not. Nu liegt se mit’n Bluthusten schon an de vier Monat – keen Verdienst un nischt nich – da is so ’n Kleenes balde hin. – Ne, großer Gott, dass mir so was passieren muss in meinem Hause.«
»Ich will kommen«, murmelte Agathe. »Heut noch. Was muss man tun, damit das Kind nicht … Mein Gott, ich ahnte nicht, dass so etwas geschehen könnte!«
»Ach Freilein –« sagte Dorte grimmig, »die armen Leute – da fragt keiner nach, ob die sich die Seele aus’n Leibe heulen.«
Die Alte erbot sich, mit dem Totengräber zu reden und alles Nötige zu besorgen. Kriechende Demut wechselte mit listiger Schlauheit im Ausdruck ihres Gesichtes. Vertrauenerweckend schien sie nicht, doch musste man sich wohl ihrer Hilfe bedienen.
»Dorte«, sagte Agathe bedrückt, »wir wollen Mama nichts von den Sachen sagen. Ich will erst sehen, wie alles steht.«
Die alte Köchin murrte etwas Unverständliches.
Vier Jahre lagen zwischen heut und dem Abend, als Wiesing mit ihrer Lade und dem Dienstbuch, dem Vierteljahrslohn und den bunten Bilderchen aus ihrer Kammer schluchzend abzog.
Viele Herrschaften beurteilten ja die Liebschaften ihrer Mädchen nicht so streng. Das war der Rätin unbegreiflich. Wutrows hatten eine Köchin schon zweimal wieder in Dienst genommen. So ein Frauenzimmer um sich zu haben – ein gräulicher Gedanke! Sie kochte allerdings vorzüglich.
Nun – Frau Wutrow … man war verwandt durch die Kinder und kam in Höflichkeit und Frieden miteinander aus, aber deswegen mit allem einverstanden zu sein, was Frau Wutrow tat, das konnte niemand verlangen. Die Wutrow drückte oft ein Auge zu, wo der materielle Vorteil ins Spiel kam. Agathe hatte kein Wort für Wiesing eingelegt. Das Mädchen war ihr unangenehm durch die Erfahrung, die sich an ihre Person knüpfte.
Agathe ging langsam die einförmige, von hohen schmutzigen Häusern besetzte Straße hinab, die nach der Stadtgrenze führte, wo die große Infanteriekaserne lag. Hier waren die Schaufenster nicht mehr elegant und glänzend, sondern mit geschmacklosem Plunder vollgestopft. Restauration drängte sich an Kneipe und wieder diese an Wurstkeller und armselige Obsthökereien, wo die Marssöhne sich ihr Frühstück holten. Die Kinder auf den Fußsteigen spielten Soldaten, Trupps von Militär zogen aus und ein.
Agathe fand nach einigem Suchen das Haus, wo die Krämern wohnen sollte. Auf der Schwelle hockte ein blasses Kind mit einem Säugling auf dem Arm, es starrte Agathe neugierig an.
Im Flur führte rechts eine Glastür mit ein paar Stufen zu einer Destille. Der Hausflur war wie ein finsterer, übelriechender Schlund. Agathe tappte sich zu der steilen Treppe und begann hinaufzusteigen. Sie las mühsam in der spärlichen Beleuchtung die Schilder an den Türen. Steiler und gefährlicher, schlüpfrig von feuchtem Schmutz wurde die Treppe. In traurigen Gedanken hatte Agathe nicht darauf geachtet, wie hoch sie gestiegen, und wusste nun nicht, an welcher der vielen Türen sie klingeln oder klopfen sollte, denn hier gab es keine Schilder mehr. Da sah sie, dass das Kind von der Türschwelle ihr nachgekommen war. Es hinkte und schleppte doch den schweren Säugling.
»Kannst Du mir sagen, ob hier Frau Krämern wohnt?«
Es antwortete nicht.
Agathe klopfte endlich aufs Geratewohl. Ein Mann in einem wollenen Hemd öffnete.
»Frau Krämern?« fragte Agathe schüchtern, »oder Luise Groterjahn?«
»Die? Zu der wollen Se?«
Eine höhnische Verachtung drückte sich in seinem Ton aus. »Da drüben.«
Er starrte ihr nach, bis sie hinter der bezeichneten Tür verschwunden war. Das hinkende Kind drängte sich mit Agathe hinein.
»De Krämern is nich da«, sagte das Kind nun.
»Aber ich möchte Luise Groterjahn sprechen.«
Das kleine Mädchen wies schweigend auf eine innere Tür.
Agathe trat in eine schräge Dachkammer. Sie enthielt weiter nichts als ein Bett und einen Holzschemel. Das Licht fiel aus einer Luke in der Decke gerade über die Kranke auf dem Strohsack. Sie lag regungslos, Agathe glaubte, sie schlafe, weil sie den Kopf nicht wendete, als sie eintrat. Doch ihre Augen standen offen und blickten auf die graue Wand am Fußboden des Bettes – wenn man dieses gleichgültige Starren einen Blick nennen konnte.
Erst als Agathe dicht neben dem Bett stand und ihre Hand leise und weich auf die des kranken Mädchens legte, als sie herzlich sagte: »Wiesing, armes Wiesing«, wandten sich die glanzlosen Augen ihr zu.
Agathe hatte sich eingebildet, Wiesing würde sich freuen, sie zu sehen. Aber die Kranke lächelte nicht. Sie weinte auch nicht. Ihre Züge blieben ganz unbewegt.
Agathe dachte an ihr rundes Kindergesicht, das gesund und fröhlich in die Welt geblickt hatte. Die Gesundheit war davongewischt – es trug eine leichenhafte Farbe mit grüngelben Schatten um den Mund und um die Augen, und es war sehr abgemagert. Aber das war es nicht, wodurch Agathe so tief erschüttert wurde. Es war die unermessliche tote Gleichgültigkeit, die darauf ruhte.
Sie verwunderte sich, dass dieses Wesen überhaupt noch um Hilfe gerufen hatte.
Die Tränen stürzten Agathe vor Weh aus den Augen. Sie beugte sich und küsste das Mädchen auf die Stirn. Dann setzte sie sich zu ihr auf den Bettrand, nahm ihre Hand und liebkoste sie leise.
Wiesing ließ alles schweigend mit sich geschehen.
»Dank auch, dass Sie gekommen sind«, murmelte sie nach einer langen Weile.
»Wiesing – warum hast Du nicht eher geschickt?«
»Die Frau Rätin waren so böse.«
»Ach, das ist ja lange her – das ist ja längst vergessen.« Agathe wusste, dass sie log. Ihre Mutter war immer noch böse.
»Wiesing – warum bist Du denn nicht wieder in Dienst gegangen?«
»Ich war immer schwächlich – das Kleine kam so schwer. Und dann war