es erst einmal darum, seine Schmerzen loszuwerden.
»Ihr letzter Patient.« Mit diesen drei Worten schob Schwester Gertrud einige Zeit später einen hoch gewachsenen, sportlich wirkenden jungen Mann ins Sprechzimmer.
Matthias Brunner stand auf, mit einem amüsierten Blick. Denn sein neuer Patient sah der energisch auftretenden Gertrud mit sichtlich verunsicherter Miene nach.
»Keine Sorge, sie beißt nicht«, beruhigte er ihn. »Sie tut nur gern so.« Dabei hielt er ihm die Hand hin. »Guten Tag. Mein Name ist Brunner.«
Der Fremde hatte einen festen, trockenen Händedruck.
»Torsten Richter.«
»Nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«
Kurz und präzise beschrieb ihm der junge Mann seine Beschwerden im Fuß, woraufhin der Arzt diesen untersuchte.
»Der Schienbeinnerv, der Ferse und Fußsohle versorgt, scheint entweder nur gedrückt oder sogar ernsthaft beschädigt zu sein, wobei ich zunächst einmal von Ersterem ausgehe«, stellte er seinem Patienten die Diagnose.
»Durch meine neuen Arbeitsschuhe vielleicht?«
»Könnte als Ursache möglich sein.«
»Und jetzt?«
»Zur ersten Linderung werde ich Ihnen in die Stelle eine Spritze geben. Des Weiteren verschreibe ich Ihnen eine Bandage, die den Druck auf den Nerv verringert. Dann warten wir ab. Natürlich lassen Sie ab heute Ihre neuen Schuhe im Schrank«, fügte Matthias ernst hinzu. »In einer Woche möchte ich Sie wieder sehen. Können Sie das einrichten?«
»Selbstverständlich«, versicherte ihm der Dunkelhaarige, der ihm auf den ersten Blick sehr sympathisch war.
In seiner jahrzehntenlangen Tätigkeit behandelte er jeden so, als wäre er ein guter Bekannter, ja, ein Freund. Das dankten ihm seine Patienten. Allerdings stellte er an sie genauso hohe Anforderungen wie an sich selbst. Sie mussten mitarbeiten, was auch hieß, dass sie bei den Nachuntersuchungen nicht schluderten. Dieser Patient schien nicht zu den Nachlässigen zu gehören.
»Sie können Socke und Schuh wieder anziehen«, sagte er und ging zu seinem Schreibtisch. Dabei sah er zum Fenster hinaus. »Welch ein herrlicher Tag«, meinte er mit zufriedenem Seufzer, bevor er sich anschickte, das Rezept auszustellen.
»Und diese tolle Landschaft«, fügte Torsten Richter in bewunderndem Ton hinzu. »Als Großstadtjunge weiß ich die Gegend hier zu schätzen. Ich bereue, dass ich nicht mit dem Motorrad gekommen bin.«
Matthias blickte auf. »Welche Maschine fahren Sie denn?«
»Eine Harley.«
Im nächsten Moment klopfte es. Schwester Gertrud schob ihren grauen Schopf ins Sprechzimmer.
Torsten Richter blickte auf die Uhr an der Wand und stand sofort auf.
»Ich bin schon weg«, verkündete er hastig.
Die beiden Männer lachten sich an.
»Wir sehen uns in einer Woche«, erinnerte Matthias ihn, bevor der Mann eilig aus dem Zimmer hinkte.
»Dass Sie sich auch immer mit den Leuten so lange unterhalten müssen«, brummte Schwester Gertrud. »Ich habe Ihrer Frau versprochen, dass ich Sie pünktlich zum Essen aus der Praxis werfe.«
Da legte ihr Matthias die Hand auf die Schulter und sagte schmunzelnd: »Meine liebe Gertrud, ich schätze Ihre Fürsorge sehr, aber mit meiner Frau komme ich schon klar. Und verhungert bin ich bisher auch noch nicht, wie Sie an meinem Bauch sehen.«
Dabei strich er sich mit zufriedenem Lächeln liebevoll über die Wölbung unter dem Arztkittel.
Als Matthias Brunner ein paar Minuten später die Tür zu seinem Wohnhaus öffnete, kam Lump freudig auf ihn zugesprungen und forderte seine Streicheleinheiten ein.
»Wenn mich dein Frauchen genauso fröhlich begrüßt wie du, habe ich ja noch einmal Glück gehabt«, sagte er zu seinem Deutschen Drahthaar so laut, dass Ulrike ihn in der Küche hören musste.
»Lump hat schon vor einer halben Stunde gegessen«, kam es da aus der Landhausküche zurück. »Er hat allen Grund, fröhlich und zufrieden zu sein.«
Natürlich hörte Matthias die leise Kritik aus Ulrikes Worten heraus, aber ihre Stimme klang so melodisch, wie immer ein Zeichen dafür, dass sie wegen seiner Verspätung nicht allzu böse sein konnte.
Er betrat die Landhausküche. Als er seine Frau, die Mutter seiner beiden längst erwachsenen Kinder, von hinten an der Spüle stehen sah, schlug sein Herz höher, selbst nach den vielen Ehejahren noch.
Sie war immer noch eine schöne Frau, für ihn die schönste überhaupt. Ein wenig molliger als früher, aber er liebte ihre Rundungen. Und als sie sich jetzt zu ihm umdrehte und sich sichtlich bemühte, ihren Augen, die die Farbe des wolkenlosen Sommerhimmels an diesem Mittag hatten, einen strengen Ausdruck zu geben, war er mit ein paar Schritten bei ihr.
»Entschuldige«, murmelte er in ihr Haar, »aber ich kann meine Patienten doch nicht einfach punkt Zwölf nach Hause schicken.«
Ulrike befreite sich aus seiner Umarmung, sah zu ihm hoch und lächelte ihn an. Die bedingungslose Liebe in ihrem Blick durchflutete ihn mit Wärme und Dankbarkeit.
Spielerisch rieb sie ihre Nase an seiner Wange.
»Ich weiß«, raunte sie, um dann gleich darauf einen Schritt zurückzutreten und mit erhobenem Zeigefinger energisch zu sagen: »So, jetzt wird aber gegessen. Und beschwere dich ja nicht, wenn das Fleisch inzwischen zu trocken ist.«
»Jawoll«, erwiderte er in gleichem Ton, schlug zackig die Hacken zusammen und salutierte, woraufhin sie beide herzlich lachten.
Während das Arztehepaar auf der Terrasse des Schwarzwaldhauses Schäufele mit Kraut aß, fuhr Amelie aus Ruhweiler heraus, wo sie nach dem Arztbesuch eingekauft hatte. Immer noch spukte ihr der attraktive Fahrer des Geländewagens durch den hübschen Kopf.
Sie hatte ihn nie zuvor im Ort gesehen. Wahrscheinlich machte er Urlaub hier in der Gegend, mit Freundin oder Ehefrau und Kindern. Ein Mann wie dieser lief bestimmt nicht mehr solo durch die Gegend. Leider.
Sie seufzte vor sich hin, während sie ihr Auto durch die Kurven lenkte. Als sie aus dem Wald kam, begegnete ihr ein knallrotes Sportcabrio. Aus seinem Verdeck wehte die schwarze Lockenmähne der rasanten Fahrerin wie eine Fahne.
Britta!
Amelie schüttelte den Kopf.
Typisch für ihre angeheiratete Kusine. Sie konnte einfach nicht vernünftig fahren. Klar, dass Britta sie bei dieser Geschwindigkeit gar nicht wahrgenommen hatte. Wie der Blitz war sie an ihr vorbeigeschossen. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet ihr, dass Jonas’ Frau spät dran war. Die Zwillinge saßen bestimmt wieder einmal auf der Treppe des Kindergartens und warteten auf ihre Mutter.
Hätte ich die beiden doch besser abgeholt, sagte sie sich mit schlechtem Gewissen. Aber Britta hatte darauf bestanden, dies selbst zu tun. Und wieder einmal fragte sie sich, wie ihr Vetter Britta nur hatte heiraten können. Eine Malerin aus Berlin, die für zwei Nächte Gast in seinem Hotel gewesen war. Liebe auf den ersten Blick so hatte er seine Gefühle damals mit völlig verklärtem Blick beschrieben. Und als Britta unerwartet schwanger geworden war, hatte er sie zur Hochzeit überredet.
Man sollte niemals das Glück erzwingen wollen, sagte sie sich mit traurigem Lächeln.
Schon bald sah Amelie den Hotelkomplex Wiesler auf einer der Anhöhen liegen. Das alte Schwarzwaldhaus strahlte Wärme, Charme und eine majestätische Zeitlosigkeit aus. Um das Haupthaus herum scharten sich noch kleinere Häuser mit tief gezogenen Schindeldächern und winzigen Fenstern. In einem befand sich die Wellness- und Sportabteilung, im anderen Wirtschafts- und Personalräume, im dritten wohnte Jonas mit seiner Familie. Sie lebte mit dem Hotelpersonal unter einem Dach, besaß jedoch dort eine große Wohnung mit herrlichem Ausblick auf den Wald.
Amelie lächelte