nach einem Herbststurm, der alles Verlorene davonträgt.
Aber es ist kein Geschenk. O nein! Die Leute haben Angst vor ihr. Und jetzt hört Lisbeth sie auch wieder, die hässlichen Musikfragmente aus verbeulten Instrumenten.
Es ist immer so, wenn ihr Gott oder der Teufel etwas zeigen. Bemalend die Auren der jungen Lisbeth Broussard, kurz vor den schmerzhaften Episoden, von denen sie heimgesucht wird wie von einem unerwarteten Gewitter. Düstere Wahrnehmungen, die Augen blind, das Herz eröffnet. Jene Serien von Bildern, die sie zu Tode erschrecken in dem kleinen Haus ihrer Kindheit, mit den stummen Mäusen hinter den Wänden und den Tauben auf den Dachvorsprüngen.
Großmutter sagt, Lisbeth hat das zweite Gesicht. Aber Lisbeth will kein zweites Gesicht. Nur noch eine Sekunde, dann werden die Kopfschmerzen wieder anfangen, das weiß sie. Es ist immer so. Sie spürt einen eiskalten Regentropfen auf der Wange. Hässlich, die Musik ist so hässlich, dass es wehtut in den Knochen. Sie vibrieren. Vor drei Jahren hatte im Haus nebenan ein alter Mann gewohnt, nur einen einzigen Sommer lang. An den Abenden hatte er rauchend auf der Veranda gesessen und Radio gehört. Das ist Jazzmusik, die kommt aus dem Mund des Teufels, hatte Vater gesagt, und Lisbeth musste schnell alle Fenster schließen. Aber gehört hatte sie sie dennoch, selbst als das Radio längst ausgeschaltet war, und sie hört sie seither bei jeder Vision, immer wieder.
Ja, sie wird sich den Draht in das Ohr stechen, ganz tief hinein. Um den bösen Engel darin endlich totzumachen. Damit er nicht mehr tanzen kann. Das wird wehtun, und vielleicht wird sie dabei sogar sterben. Aber dann wird alles endlich stumm sein, und diese Vorstellung ist herrlich.
Doch bevor sie die Hand mit dem Draht heben kann, sieht sie das Feuer aus den Fenstern schlagen. Sieht Augen in Köpfen platzen und Haare lichterloh brennen. Lisbeth taumelt schreiend, fällt zu Boden. Und dann ist alles so dunkel wie in einem Grab.
In meinem Kopf tanzt ein böser Engel.
Wie lange hat sich Lisbeth nicht mehr daran erinnert? Vermutlich ein halbes Leben lang, ganz sicherlich aber nicht mehr seit der Geburt Marlenes. Ihres Herzschlagmädchens, das seit dem ersten Tag stark genug gewesen war, um alles von ihr zu nehmen. Selbst die losen, beinahe nebensächlichen Ausläufer einer scheinbar starken Hellsichtigkeit, das Nachbeben einer Kindheit voller merkwürdiger Geschehnisse. Einer Kindheit, in der sie Dinge voraussehen konnte wie alte Männer den ersten Schnee. Natürlich nicht alles Zukünftige, aber doch genug davon, um sie einsam und ängstlich zu machen. Verloren. Die verrückte Broussard, die Hexe Lisbeth, hatten die anderen Kinder sich heimlich zugeflüstert und sie gemieden, als hätte sie die Pocken. Wenn sie dich anfasst, dann bist du mausetot, konnte es Lisbeth aus den Schulhofecken wispern hören. Dabei geschah überhaupt nichts, wenn das Mädchen jemanden berührte, wie sehr sie sich auch anstrengen mochte. Großmutter, die eigentlich so gut wie nie etwas Vernünftiges sprach, sondern meist nur stumm mit ihrem Mund verrückte Wörter formte, sagte vor gefühlten hundert Jahren unvermittelt: »Das liegt alles in der Luft. Sie atmet es ein.« Und vielleicht trifft es das sogar am genauesten.
Alles war versteckt, doch gerade jetzt muss Lisbeth wieder daran denken, so wie man plötzlich an eine alte Liebe denkt, an den heimlichen Kuss zwischen Kirschbäumen. Daran denkt, ohne es eigentlich zu wollen. Aber sie spürt auch: Dinge, an die man nicht mehr glauben kann, ruhen nie für sehr lange Zeit, sind wie Scheintote, die an den Sarg klopfen. Daran zu glauben, dass sie so eine Art Wunderkind, ein Medium gewesen ist – viel später hatte sie einiges darüber gelesen –, fällt ihr schwer. Zu zersplittert die meisten Erinnerungen, als würde sie jetzt an ein ganz anderes Mädchen denken, das eine Zeit lang in ihr gelebt hat. Während sie frierend in ihrem Auto sitzt, vom Spätdienst in der Notfallambulanz nach Hause fahrend, die schmale, sich schlängelnde Straße vor sich. Vielleicht muss sie ja wegen der flirrenden Schneeflocken im Scheinwerferlicht an früher denken, die sie an die grellen Lichtpunkte hinter den Augen erinnern. Mit denen immer alles angefangen hatte, zusammen mit einem schrecklichen Pochen und unglaublichen Brennen, so als hätte sie sich etwas ins Auge gerieben. Die Bilder der Geschehnisse, die noch kommen sollten, nichts als glühende Eisenspäne, die in ihre Pupillen regneten. Untermalt von sich überschlagenden Jazztönen aus den Sommernachtsträumen.
»Du bist einfach nur müde, das ist alles. Hundemüde.« Und tatsächlich fühlt sich Lisbeth so ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. Der Dienst in der Notfallambulanz war wegen des Wintereinbruchs hoffnungslos und blutig gewesen. Erst hatte es geregnet, dann doch noch geschneit. Sieben Verkehrsunfälle auf den spiegelglatten Nebenstraßen, zwei Leichen und ein abgetrennter Oberarm mit einer ausgeblichenen Popeye-Tätowierung darauf. Den Geruch des Sterbens immer noch in der Nase, auf der Haut, an ihren Händen. Eine Melange aus altem, gestocktem Blut und frischem galligen Erbrochenem, an die sich Lisbeth selbst nach beinahe fünfzehn Jahren Krankenschwesterndasein nie gewöhnen wird. Auch wenn sie, bei Gott!, schon mehr gesehen hat, als andere in einem dieser billigen Gruselfilme in der Spätvorstellung. Männer, die sich beim ersten Mähen der Wiese hinter dem Haus den Vorfuß amputieren und mit erkalteten Zehen in der Plastiktüte in die Notaufnahme kommen, führen bis zum Spätsommer die Spitzenliste der Aufnahmen an. Im Herbst dann die Stromunfälle, einige davon wirklich hässlich. Im Winter die weihnachtlichen Familienstreitigkeiten mit leichten bis schweren Verletzungen; Lisbeth hat dabei früh gelernt, dass tatsächlich alles zu einer gefährlichen Waffe werden kann. Im Frühjahr fangen die Leute merkwürdigerweise an, alte Dinge in den Hinterhöfen anzuzünden und sich dabei selbst schwer zu verbrennen, vermutlich zu viel Spiritus und noch mehr Schnaps. Dazwischen natürlich immer wieder Kinder, die Murmeln verschlucken, mit Mumps aufwachen oder schlicht an Bauchschmerzen leiden. So gliedert sich das Jahr für Lisbeth in ein absonderliches Kalendarium der Vorhölle. Was nicht heißt, dass es nicht schlimmer kommen könnte – die wahre Brut des Bösen, das waren schon immer die Angehörigen.
Hätte sie nicht eine Tochter, die ihr das Leben außerhalb der Arbeit offenbart, sie würde die Abende wohl ebenfalls in Franks Bar verbringen, so wie Dutzend andere Krankenschwestern, um die Schreie der Patienten und das Meckern der Angehörigen vergessen zu können. Allein um das Dunkle des Tages zu übertünchen, würde sie sich jetzt gern an den Namen der Frau erinnern, die mit einer äußerst schlechten Atmungssituation, kardial längst hoffnungslos dekompensiert, vor knapp einer Stunde auf dem Reanimationsbrett lag und noch einmal kurz nach Lisbeths Hand griff, ehe sie starb. Weit, ganz weit offen die Augen, in ihrem Mund ein kleiner See frischen Bluts, in dem sich das Neonlicht spiegelte. Nur um den Namen ganz leise vor sich her zu sprechen, des Herzens wegen. Aber auch daran wird Lisbeth sich nie gewöhnen können: an das rasche Vergessenwerden von Sterbenden, die nichts hinterlassen als einen Fleck auf dem Fliesenboden und eine späte Fahrt in die Prosektur, kurz vor Dienstschluss. Heute waren alle Kühlfächer belegt gewesen, der örtliche Leichenbestatter kam wegen des schlechten Wetters nicht mehr rechtzeitig. Nachtbuchung im Hotel Poe, so nennen es die Ärzte, wenn die Angehörigen längst nach Hause gegangen sind und in der Leichenhalle nur noch das Notlicht brennt.
Das Auto schlittert über den Mittelstreifen, Lisbeth erschrickt. Die Flocken sind faustgroß geworden und wirbeln herum wie in einer Schneekugel. Das Radiogerät rauscht gespenstisch, verzerrt einen Song von den Beatles ins Unkenntliche. Strawberry Fields Forever. Während der Ostwind zu einem Orkan anwächst und die Äste der Bäume zu Boden drückt, schwindet John Lennons Stimme und verstummt schließlich ganz. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie doch noch einen Kaffee mit dem Bereitschaftsdienst der Intensiv und der Anästhesie in dem verlassenen Krankenhauscafé getrunken hätte, statt gleich nach Schichtende aufzubrechen. Doktor Lehmann hat heute Nachtdienst auf der Intensivstation, und sie findet ihn ziemlich attraktiv. Vielleicht wird sie sogar mit ihm nach den Weihnachtstagen ausgehen, runter zum Jahrmarkt oder zum See. Lisbeth lächelt, weil sie es sich vermutlich doch nicht trauen wird. Sie kennt ja nicht mal seinen Vornamen.
»Verdammt!« Der Ford schlittert abermals, und Lisbeth hält schließlich den Wagen an. Bei der weit entfernten Kirche glaubt sie das orange Warnlicht des Streufahrzeugs flackern zu sehen, während der Schnee auch den letzten Rest des Asphalts bedeckt.
»Na, komm schon!« Das Streufahrzeug verschwindet und taucht am anderen Ende der Vorstadt wieder auf, entfernt sich scheinbar von ihr. Lisbeth schaltet die Warnblinkanlage und das Innenlicht gleichzeitig an. Hupt einmal kurz auf. Als Kind hatte sie starke Angst vor der Dunkelheit, vor den