Richard Lorenz

HINTER DEN GESICHTERN


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Namen rufen. Jene Gespenster aus ihrer Kindheit, die sie nicht hatte retten können durch ihre Hellsichtigkeit, bevölkern nun die Mauerritzen und warten auf schlaflose Nächte.

      Was würde sie gerade jetzt für eine Zigarette geben, sie streift über ihren Mund und verwischt dabei den Lippenstift. Irgendwo müssten hier doch noch welche sein! Ungeduldig kramt sie in ihren Taschen, flucht leise und findet eine völlig vertrocknete Camel, aus der bereits der Tabak rieselt, am Meeresgrund ihrer Handtasche. Vor Marlenes Geburt hat sie eine, manchmal sogar zwei Schachteln am Tag geraucht und es mit der Schwangerschaft vor vierzehn Jahren von einem Tag auf den anderen aufgegeben. Nur manchmal, besonders nach einem Tag wie diesem, raucht sie heimlich auf dem Nachhauseweg. Sie hasst sich dafür, auch weil Marlene es hasst. Zitternd zündet sie sich die Zigarette an, inhaliert tief und lehnt den Kopf zurück. Längst hätte sie die Winterreifen aufziehen lassen sollen, hat es aber dann doch immer wieder verschoben und schließlich vergessen. Nach der Zigarette wird sie einfach so langsam wie nur möglich weiterfahren und beten, nicht in den Straßengraben zu rutschen.

      Im Radio singt Dean Martin, und erst jetzt bemerkt Lisbeth, wie verlassen sie hier draußen ist. Das nächste Haus viele Hundert Meter entfernt. Weit und breit kein anderes Auto, sie ist umschlossen von der Dunkelheit der Nacht und der Stille des frischen Schnees.

      Merkwürdig, dass man oft am falschen Ort an das Falsche denkt. Nicht etwa an die eigenwillige Schönheit des unberührten Schnees oder an die nicht mehr allzu fernen Weihnachtstage, nicht mal ein einziger Gedanke an Lehmann. Die Angst des Augenblicks zentriert das Schreckliche, und Lisbeth denkt an den ersten gellenden Schrei von Schwester Hannah aus dem Schockraum 2 am Ende des Flurs vor drei Tagen. Obwohl Schwester Hannah ein alter Hase ist, schreit sie immer mal wieder wie eine hysterische Schwesternschülerin, besonders wenn die Leute etwas Ansteckendes haben. In den Noro-Virus-Hochphasen im Frühjahr und Herbst kommt Hannah manchmal gar nicht mehr aus dem Schreien heraus. Deshalb hat sich Lisbeth auch erst einmal gar nichts dabei gedacht, wenngleich der Schrei diesmal anders gewesen ist, lauter als gewohnt. Draußen ein Rettungswagen mit offener Tür, Lisbeths Behandlungsraum leer. Ihr letzter Patient auf dem Weg zur Röntgenabteilung, als der Schrei, der zweite Schrei, die Zeit zerschneidet. Ein Schrei von jemandem, der offensichtlich gerade dabei ist, den Verstand zu verlieren.

      Lisbeth zieht lange an der Zigarette, das Wageninnere füllt sich mit Rauch, sie versucht die hässliche Momentaufnahme aus ihrem Kopf zu drängen. Zu Hause wird Marlene schon auf sie warten, mit einer heißen Schokolade in der Küche. Vielleicht, nein, ganz sicher, wird sich Lisbeth dann ein heißes Bad einlaufen lassen. Sie wird.

      Sie wird umfallen, wenn sie so weiterschreit. Einfach umfallen und einen Krampfanfall erleiden. Das jedenfalls hat sich Lisbeth gedacht, als sie über den wellig gewordenen Linoleumboden nach hinten in Richtung Schockraum 2 gerannt ist und sich auf halbem Wege geärgert hat, kein Valium aufgezogen zu haben. Vielleicht ist ihrem Ehemann ja etwas zugestoßen, ein Unfall in der Arbeit. Er trinkt zu viel, das erzählen sich hier die Schwestern. Aber dann hat sie Hannah gleichzeitig mit dem diensthabenden Chirurgen erreicht, der gerade eine Platzwunde genäht hat. An seinen Handschuhen schmale Streifen Blut.

      Schließlich hat Lisbeth es gesehen.

      Sie wischt ein kleines Sichtfenster an der Seitenscheibe frei, blickt nach draußen und versucht immer noch, es zu verstehen. Vom Himmel fallen nur noch vereinzelte Schneeflocken, auch der Sturm hat inzwischen ein wenig nachgelassen. Als Mädchen hat sie den Winter geliebt, weil der Schnee und das Eis alles wegnehmen, überdecken. Jegliche Erinnerungen, die in jeder Seitenstraße zu finden sind. Sommerwünsche, die sich nicht erfüllt haben. Sie seufzt und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus.

      Patienten, die in die Notaufnahme kommen, sind entweder sehr krank oder haben einen Unfall erlitten. Tote bringen sie eigentlich nicht in die Notfallambulanz. Warum auch?

      Vielleicht, und darüber denkt sie gerade nach, verschwinden Erinnerungen niemals, nicht einmal nach hundert Jahren. Vielleicht sind sie wie trübes Wasser in einem sonst so klaren See: Ein Blick auf den Grund des Wirklichen wird nahezu unmöglich.

      Der Mann im Schockraum 2 ist tot gewesen, keine Frage. Und tatsächlich hat sich Lisbeth im ersten Augenblick gedacht: ein häuslicher Streit, ein Unfall oder vielleicht eine Messerstecherei. Aber dann überfluten sämtliche Bilder von damals alles Gegenwärtige.

      Die Kinder, der Brustkorb eröffnet. Das Herz gestohlen.

      Vor dreißig Jahren.

      Nein, natürlich hat dort kein Kind gelegen. Aber das Messer hat in seinem Herzen gesteckt, und das allein hat gereicht, um Schwester Hannah schreien zu lassen. Lisbeth drückt ihre Stirn an das kalte Seitenfenster und zählt ihre Atemzüge, wie sie es als Kind getan hat, wenn ihr schlecht wurde.

      Fahr nach Hause!

      Hat sie es laut ausgesprochen, oder ist die Stimme nur in ihrem Kopf gewesen? Obwohl die Heizung des Fords auf höchster Stufe läuft, friert Lisbeth bis auf die Knochen. Tief innen steckt die Kälte wie ein verschluckter Eisklumpen. Plötzlich ist bei den Sträuchern am Straßenrand eine Bewegung zu erkennen. Nein, keine Windböe, die Unrat von sich hertreibt, sondern ein Mann. Ein vom fast vollen Mond geworfener Schattenriss, rabenschwarze Zungen auf unberührtem Schnee. Lisbeth erschrickt, stößt einen kurzen grellen Schrei aus. Weder links noch rechts sind die Türknöpfe nach unten gedrückt, aber die Angst lähmt jegliche Bewegung. Aus dem Radio, vermengt mit statischem Rauschen, singt David Bowie sein Weltraummärchen.

      Die Arme weit ausgebreitet, in jeder Mulde ihres Körpers purpurnes Blut – das sieht Lisbeth für Sekunden hinter den Augen. Ein verblassendes Polaroid in falschen Farben, beinahe bereits eine Negativaufnahme, die Lisbeth erkennt zwischen zwei Lidschlägen. Keine Vision, vielmehr die fotografische Darbietung eines Kinderalbtraums: tot auf einem Feld zu liegen, bedeckt von den Wolken, bedeckt vom eigenen Blut. Wie dumm muss man sein, um einfach mitten im Nichts stehen zu bleiben, Lisbeth, flüstert Großmutter aus ihrem Grab heraus.

       May God’s love be with you. Two. One.

      Und dann überquert ein ausgewachsenes Reh die schmale Straße, so nah, dass Lisbeth es hätte berühren können, wenn sie die Hand aus dem Fenster gestreckt hätte. Gleichgültig sieht das Tier in ihre Richtung, verweilt einen Moment und stiebt dann zum Waldstück am Stadtausläufer davon. Lisbeth kichert hysterisch, lacht über ihre Angst, obwohl diese wie ein Parasit in ihren Eingeweiden steckt und sich immer tiefer frisst, bis auf den Grund ihrer Seele. Kognitive Verschiebung der Eindrücke nennen das einige Psychologen, darüber hat sie gelesen und sich ihre eigene Erklärung zurechtgelegt. Die Episoden der Vorahnungen haben nach und nach ihre Nerven blank gescheuert. So einfach ist das.

      Kapitel 2

      Von einem Atemzug auf den anderen glaubt Lisbeth, dort draußen in der Dunkelheit alle Schreckgespenster sehen zu können, mit gelben Wolfsaugen und gierigen Händen. Hinter den Bäumen ein weiteres Schattengeäst, und Lisbeth gibt unvernünftig viel Gas. Gefährlich schlittert das Auto herum, doch nach einem Augenblick hat sie es wieder unter Kontrolle. Als ihr das Streufahrzeug entgegenkommt, bemerkt sie nicht, dass der Schneefall bereits wieder zunimmt.

      Eigentlich hat sie den Ort, an dem sie immer schon lebt, nie sonderlich gemocht. Eine Art größeres Dorf, das in guten Zeiten so etwas wie eine Stadt zu sein vorgibt. Mit seinen Festen, Jahrmärkten und den Kunstausstellungen in der Sparkasse. In Wahrheit aber ist dieser Ort immer nur ein loser Haufen Häuser und Vorgärten geblieben. Mit seinen vom Wind geformten Bäumen und den Geisterorten, an die sich kein Mensch mehr erinnern mag. Mit seiner Mahnung an die dunklen Tage. Und mit seinen Albträumen von den noch finstereren Nächten.

      Daran denkt Lisbeth gerade, vielleicht auch, weil die Straßen eher wie Wege sind und scheinbar nirgendwohin führen. Lichterlos die Häuser, nur bei wenigen, weit entfernt, die flackernden Glühbirnen der Hofbeleuchtung. Traumhaft hätte dieser Landstrich sein können, vergessen von den großen Städten ringsherum – eines jener Postkartenidylle einer unendlich langen Sommerfrische.

      Lisbeth bremst erneut, schlittert durch eine Schneeverwehung und fährt zögerlich weiter. Langsam, aber sicher bekommt sie Kopfschmerzen, und eine Sekunde