Inka Loreen Minden

Dunkle Träume


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drückte ihn fester an seine Brust, wobei er die Rückenschmerzen ignorierte. Jamie war Noirs Ein und Alles. Er durfte ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Noir würde ihm nie verzeihen, wenn ihrem Bruder etwas zustieße. Er selbst würde es sich nie verzeihen. »Tu das nie wieder«, knurrte er, »oder ich zeige dir, wie ungehalten ich werden kann.«

      Jamie streckte die Hand aus und ließ eines von Nicks Zöpfchen durch die Finger gleiten. Beinahe wirkte er wie der junge Mann, als den er ihn kennengelernt hatte. »Du und ungehalten?« Er lächelte matt.

      »Ich bin der große, böse Dämon, schon vergessen?« Wie anziehend der Kleine auf ihn wirkte, wenn er nur er selbst war. Leider dauerte der Moment viel zu kurz. Schwarze Flüssigkeit lief wie Tinte in Jamies Augen. Verdammt, ausgerechnet jetzt musste dieser Bastard zurückkehren.

      Sofort nahm seine Stimme einen anderen Klang an und er kämpfte sich aus Nicks Umarmung. »Verpiss dich, du Missgeburt, ich pass schon auf, dass Jamiel sich nichts antut, ist ja auch mein Körper!«

      »Das hab ich gesehen«, zischte Nick.

      Zorell stapfte auf eine Hauswand zu und malte mit der Hand einen großen Kreis darauf. Es bildete sich ein Ring aus blauknisternder Energie, in dessen Mitte ein schwarzes Loch klaffte. Der Mistkerl wollte in die Unterwelt verschwinden.

      »Wehe, du folgst mir«, spie Zorell ihm entgegen und stieg durch den Kreis, der sich hinter ihm zusammenzog.

      Nick sprintete zur Wand und bekam gerade noch den Zeigefinger in das Portal, bevor es sich aufgelöst hätte. So wartete er eine Weile, die ihm wie Stunden vorkam, und zog das Portal wieder auf. Das war einer der Vorteile, wenn man selbst ein Dämon war. Von nun an würde er dem Kleinen auf Schritt und Tritt folgen.

      Kapitel 3 – Jenna Fairchild

      Vincent stand neben der Liege und blickte Jenna gebannt an.

      »Keine Hörner, keine Schwingen?«, fragte Noir, als sie sich das Gel vom Bauch wischte.

      Lächelnd legte Jenna das Ultraschallgerät zur Seite. »Mit eurem Baby ist alles in Ordnung. Es entwickelt sich völlig normal.« Sie wusste, welch große Sorgen sich ihre Freundin und ihr Partner machten, denn Vincent war zur Hälfte ein Gargoyle. Seine Mutter war ein Mensch und bei seiner Geburt gestorben, weil Menschenfrauen nicht so große Geschöpfe austragen konnten. Auch der große, sexy Kerl, der nebenan im Aufwachraum lag, war ein Goyle.

      Jennas Herzschlag beschleunigte sich, als sie an Kyrian dachte. Sie brauchte sich nur sein ernstes Gesicht vorzustellen und schon musste sie über diesen Mann nachdenken.

      Vincent, der sich als einziger Goyle verwandeln und eine komplett menschliche Gestalt annehmen konnte, riss sie aus den Gedanken. »Druckst du mir bitte noch ein zweites Ultraschallbild aus?«

      Mit zitternden Händen fuhr er durch sein braunes Haar, die steingrauen Augen fest auf den Monitor gerichtet. Stolz funkelte in ihnen. Obwohl er Angst hatte, freute er sich ungemein auf ihren Jungen.

      Jenna nickte. »Klar.«

      Noir setzte sich auf und Vincent half ihr. Er war unglaublich besorgt um seine Gefährtin, dass es Jenna ein Schmunzeln entlockte. Der zärtliche Wächter und die mächtige Hexe – die beiden waren ein Traumpaar.

      »Wozu brauchst du zwei Bilder?«, wollte Noir wissen.

      Vincent kratzte sich am Kinn. »Kara möchte unseren Sohn sehen.«

      Jenna drückte ihm die Bilder in die Hand. »Eins für Kara, eins für dich.« Kara war der Wächterengel der Londoner Bruderschaft der Gargoyles, die Vincent verstoßen hatte. Der Engel war seine Ziehmutter gewesen. Daher standen sich die beiden nah.

      »Kann ich dich allein lassen?«, fragte er Noir. »Kara muss heute Nachmittag weg und ich wollte ihr vorher unbedingt …«

      Noir lachte. »Geh schon.« Sie küssten sich und Noir gab ihm einen Klaps auf den Hintern.

      Nachdem Vincent Jenna gedankt hatte, war er bereits zur Tür hinaus. Sie seufzte. Der Mann ihrer Freundin war ein Traum. Ein attraktiver Beschützer mit dem Herzen am rechten Fleck. Sie freute sich für die beiden. »Du hast so ein Glück mit ihm«, sagte sie zu Noir.

      »Ja, das habe ich.«

      Jenna stand auf, reichte Noir ein weiteres Papiertuch und öffnete die Tür zum Nebenraum einen Spaltbreit. Vincent hatte während der Untersuchung immer wieder darauf gestarrt, als ob er gewusst hätte, dass sich einer seiner Goyles dahinter befand. Bestimmt hatten seine Instinkte ihm das verraten. Ihr Patient schlummerte bäuchlings auf einer Liege. Sein schwarzes Haar bedeckte die Hälfte seines Gesichts. Jenna war versucht, zu ihm zu gehen, um es ihm wegzustreichen und die Linien seines Kinns und der Wangenknochen nachzuzeichnen.

      Plötzlich kitzelten silberweiße Strähnen ihre Nase, als Noir über ihren Kopf lugte. »Kyr hat doch keine schlimme Krankheit, oder?«

      »Was?« Schnell zog sie die Tür zu. »Wieso bist du so neugierig?«

      »Mir sind Vincents Blicke nicht entgangen.«

      Jenna rollte übertrieben mit den Augen. »Ihr beide seid echte Schnüffler.«

      Schulterzuckend erwiderte Noir: »Kyrian hat über Kopfschmerzen geklagt und ich habe ihm empfohlen, dich aufzusuchen.«

      Von Kopfschmerzen wusste sie nichts.

      »Oh Gott, hatte er einen Gehirntumor?« Noir zog sich ihr T-Shirt über den Babybauch und war im Begriff, die Tür erneut zu öffnen, doch Jenna stellte sich davor. »Er wurde operiert, oder?«, fragte Noir. Sorge lag in ihrem Blick.

      Jenna nickte. »Ich darf dir nicht sagen, weshalb Kyrian hier ist, Schweigepflicht und so. Du verstehst?«

      »Aber …«

      Beruhigend legte sie ihrer Freundin die Hand auf den Arm. »Es geht ihm gut. Morgen ist er wieder voll einsatzfähig.« Dank ihrer Gabe, nur musste das niemand wissen.

      Auf einmal fühlte sie ein Ziehen im Kopf. Intensiv schaute Noir sie an. »Untersteh dich!« Jenna grinste. »Du weißt, dass das bei mir nicht funktioniert, außerdem sollst du nicht zaubern.« Sie hatte schon früh gelernt, ihre Gedanken abzuschirmen, beziehungsweise klappte das bei Jenna ohnehin von Haus aus.

      »Ich zaubere nicht, das passiert von ganz allein«, verteidigte sich Noir.

      Als Jenna ihre tot geglaubte Freundin letztes Jahr wiedergesehen hatte, war sie sehr verletzt gewesen, weil Noir sie nicht eingeweiht hatte. Immerhin waren sie die besten Freundinnen gewesen, bis Noir im Alter von fünfzehn Jahren spurlos verschwunden war, genau wie der Rest ihrer Familie. Hätte Jenna gewusst, dass sie vor Dämonen auf der Flucht war, hätte sie alles getan, um ihr zu helfen. Aber jetzt verstand sie Noir – es wäre zu gefährlich gewesen. Außerdem hütete sie ihr eigenes Geheimnis. Seit dem Tag vor so vielen Jahren hatte sich eine Menge verändert. Ihre Freundin hatte sich verändert. Sie hieß nicht mehr Malou LeMar sondern Noir Hadfield und hatte silberweißes langes Haar anstatt ebenso blondes wie Jenna. Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, war Jennas langweiliges Leben.

      »Ich hab’s: Er hat sich Po-Implantate machen lassen.« Noir grinste so verschmitzt, dass Jenna lachen musste.

      Sie gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Du bist unmöglich!« Als ob Kyrian irgendwelche Schönheitsoperationen nötig hätte. Zumindest jetzt nicht mehr. Sein Hintern war perfekt. Alles an ihm war perfekt.

      Da Noir nicht zu einem normalen Frauenarzt gehen konnte, hatte Jenna angeboten, sie und ihr Kind zu untersuchen. In die Klinik ihres Vaters kamen fast nur Hexen, Zauberer und einige andere Geschöpfe. Hier blieben sie unter ihresgleichen und ihre Fähigkeiten unentdeckt. Ein Baby-Gargoyle auf dem Ultraschallbild war zwar auch hier etwas Ungewöhnliches, hatte jedoch niemanden schockiert.

      »Er hat sich bestimmt nur für dich unters Messer gelegt, um dir nah zu sein«, sagte Noir.

      »Wie kommst du da drauf?«, fragte Jenna möglichst beiläufig, während sie das Ultraschallgerät ausschaltete.