sich die Tür und Andrea Sander, die Assistentin der Klinikchefin, kündigte die Besucherin an.
»Frau Dr. Merz ist hier.«
»Sie soll reinkommen. Und bitte bringen Sie noch Kaffee«, bat Jenny, als hinter Andrea auch schon Lauras schmale Gestalt auftauchte.
Sie war blass und wirkte angespannt.
»Sie wollten mich sprechen?«, wandte sie sich an Dr. Behnisch, ehe ihr Blick den anwesenden Mann streifte, den sie nach der Operation nur kurz auf dem Klinikflur zu Gesicht bekommen hatte. Trotzdem erkannte sie den Vater ihrer jungen Patientin sofort, und schlagartig wurde ihr noch schlechter als ohnehin schon. »Geht es um Anneka?«, erkundigte sie sich ängstlich. »Ich habe gehört, dass sie auf dem Weg der Besserung ist.«
»Danke. Anneka geht es schon wieder ziemlich gut.« Daniel fühlte mit der Gynäkologin. Die Tatsache, dass sie erst vor Kurzem ihren Partner auf so tragische Art und Weise verloren hatte, stimmte ihn noch viel milder als ohnehin schon. »Bei diesem Eingriff haben Sie hervorragende Arbeit geleistet. Das hat mir der Kollege Weigand noch einmal versichert.«
Vor Verlegenheit und Scham wurde Laura rot. Doch freuen konnte sie sich nicht über dieses Kompliment. Sie setzte sich auf die äußerste Kante des Sessels und dankte Andrea, die noch einmal hereingekommen war, um Kaffee zu servieren.
»Ich habe mir übrigens die Ultraschallbilder Ihrer Tochter noch einmal genau angeschaut. Darauf ist zwar die Zyste erkennbar, die sich möglicherweise schon gedreht hatte«, sagte sie, als sie wieder unter sich waren. »Aber eine Blutung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetreten.«
»Eine Schwester hat berichtet, Sie hätten trotz Hinweis kein CT in Erwägung gezogen«, mischte sich Jenny an dieser Stelle ins Gespräch ein.
Laura schluckte und senkte den Kopf.
»Das stimmt«, gestand sie leise. »Ich war mir einfach sicher. Das war ein Fehler.«
»Ich habe Sie eingestellt, weil ich Sie für eine kompetente Ärztin gehalten habe.« Jennys Stimme war unerbittlich, und Laura wünschte sich ein Loch, in das sie hätte verschwinden können. Leider hatte der Himmel kein Einsehen, und das Wunder geschah nicht.
»Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuscht habe«, entschuldigte sie sich leise und starrte auf ihre ineinander verschlungenen Hände.
Seufzend lehnte sich die Klinikchefin in ihrem Sessel zurück. Im Normalfall hätte sie diese Angelegenheit mit einer Ermahnung auf sich beruhen lassen können. Doch leider ging es um mehr. Um viel mehr.
»Das ist leider noch nicht alles«, fuhr sie schließlich schweren Herzens fort und griff nach der Zeitung, die sie bereits im Vorfeld auf dem Tisch deponiert hatte. »Ich möchte Ihre Meinung zu diesem Fall hören.«
Laura starrte auf das Blatt. Sie wusste sofort Bescheid, und die Buchstaben der Schlagzeile tanzten vor ihren Augen.
»Sie sprechen von meiner Bekanntschaft mit Achim«, wusste sie sofort, worauf ihre Chefin hinaus wollte.
»Kein Wunder, dass Sie durcheinander waren, als Sie meine Tochter untersucht haben«, bemerkte Daniel Norden.
Laura nickte, unfähig, den Blick von der Zeitung zu wenden.
»Ich habe ihn im Schockraum gesehen«, murmelte sie. »Er lag da auf dem Tisch, die Kollegen standen um ihn herum, ernst, sprachlos. Ich wusste sofort, was los ist.« Sie kämpfte kurz mit sich, dann hob sie tapfer den Kopf. »Es mag sich vielleicht komisch anhören. Aber es ist nicht so schlimm. Achim und ich hatten uns kurz zuvor nach drei chaotischen Jahren getrennt. Deshalb kann ich nicht wirklich trauern. Auch wenn es zuerst natürlich ein Schock war.«
Jenny Behnisch nickte verständig.
»Es tut mir wirklich leid«, bekundete sie ihr tiefes Mitgefühl. Doch die weitaus schwierigere Aufgabe stand ihr noch bevor. »In dem Artikel weiter unten steht, dass an der Unglücksstelle Reste von Rauschmitteln gefunden wurden«, erklärte sie langsam, ohne Laura Merz aus den Augen zu lassen. Die Miene der Gynäkologin war unbewegt. »Der Zufall will es, dass eine Schwester festgestellt hat, dass in unserem Bestand ausgerechnet von diesem Präparat etwas fehlt. Sie hat mir Meldung erstattet. Es gibt auch einen Hinweis darauf, wer die Tabletten genommen haben könnte. Es handelt sich um eine junge Lernschwester ...«
Bis jetzt hatte Laura den Ausführungen der Chefin mit regloser Miene gelauscht. Doch an dieser Stelle konnte sie nicht länger schweigen.
»Ich war es!«, erklärte sie mit einer Stimme, die sie selbst überraschte. Dabei sah sie Jenny Behnisch direkt in die Augen. »Achim hat mich darum gebeten. Aber das kann und darf keine Entschuldigung dafür sein, dass ich die Medikamente genommen habe. Es ist meiner eigenen Schwäche zuzuschreiben, dass ich ihm nicht widerstehen konnte. Die Lernschwester trifft keine Schuld.« Die Wahrheit war ausgesprochen, und selbst wenn sie gekonnt hätte, hätte Laura ihre Worte nicht mehr zurückgenommen. »Vielleicht musste alles so kommen. Vielleicht muss ich einfach einen kompletten Neuanfang wagen. Selbstverständlich erhalten Sie noch heute meine Kündigung. Falls Sie erwägen, Anzeige zu erstatten, werde ich natürlich zu meinen Taten stehen und mich vor Gericht verantworten.« Laura hatte sich diese Worte nicht vorher zurecht gelegt. Sie sprudelten einfach aus ihr heraus, ohne dass sie lange darüber nachdenken musste, und sie war überrascht über ihre plötzliche Klarheit.
Auch Dr. Norden und Dr. Behnisch waren mehr als verwundert. Mit allem hatten sie gerechnet. Nur nicht mit diesen vernünftigen Worten, die die Entscheidung umso schwerer machten. Eine bleierne Stille breitete sich im Büro aus. Von draußen drangen geschäftige Geräusche herein. Eine Tür fiel ins Schloss, eilige Schritte hasteten den Flur hinab. Irgendwo lachte ein Mann.
»Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit«, war es schließlich Jenny, die das Schweigen brach.
Laura sah sie mit großen Augen an.
»Und was passiert jetzt?«, stellte sie die alles entscheidende Frage, und Jenny Behnisch schickte ihrem Freund und Ratgeber Daniel einen fragenden Blick. Der verstand die stumme Frage und nickte kaum merklich.
Das war das Signal für die Chefin, ihrer Gynäkologin ihre Entscheidung mitzuteilen.
»Angesichts der Umstände, unter denen Sie diese Tat begangen haben, werde ich auf eine Anzeige verzichten.«
Um ein Haar hätte Laura Merz erleichtert aufgestöhnt. Doch Jenny war noch nicht fertig. »Allerdings müssen Sie verstehen, dass ich Sie auf keinen Fall weiter beschäftigen kann.«
Diesen Wermutstropfen musste die Frauenärztin in Kauf nehmen und nickte tapfer.
»Selbstverständlich. Damit habe ich gerechnet und nichts anderes habe ich verdient.« Welche Aussichten sie wohl auf dem Arbeitsmarkt mit einer entsprechenden Bemerkung in der Personalakte haben würde? »Vielleicht werde ich mich bei den Ärzten ohne Grenzen bewerben und irgendwo im Ausland Gutes tun.«
Bei diesem Gedankenspiel huschte ein Lächeln über Daniels Gesicht. Er wusste, was Jenny für die Kollegin in petto hatte, hatte schon im Vorfeld die diversen Möglichkeiten mit ihr diskutiert. Tatsächlich zog seine Freundin in diesem Augenblick eine Visitenkarte aus der Kitteltasche und reichte sie Laura Merz über den Tisch.
»Das können Sie in Ihrem Urlaub gerne machen«, erklärte sie freundlich. Kurz erinnerte sie sich an ihre Zeit als Entwicklungshelferin in Afrika, und ein warmes Gefühl der Sympathie durchflutete sie. Doch schnell kehrten ihre Gedanke zurück in die Gegenwart. »In der übrigen Zeit werden Sie in der Klinik meines Freundes Professor Herzog dringend gebraucht. Es handelt sich um eine gynäkologische Tagesklinik, die händeringend nach ausgezeichneten Kollegen sucht. Ich habe mich bereits erkundigt. Sie werden erwartet. Natürlich nur, wenn Sie wollen.«
Das Strahlen, das sich schlagartig auf Lauras Gesicht ausbreitete, war Antwort genug.
»Das ist großartig. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
Ehe Jenny eine Antwort geben konnte, war Laura schon aufgesprungen und umarmte spontan die Frau, die für so kurze Zeit ihre Chefin gewesen war.