ich glaub, ich nehm die Wäsche. Die riecht immer so gut, wenn sie aus der Wäscherei kommt«, beschloss Lydia, leerte ihre Kaffeetasse und stand auf.
»Gut. Dann mach ich die Medikamente.« Auch Josephine hatte ihre Entscheidung schnell getroffen und folgte ihrer Freundin und Kollegin nach draußen.
Dort trennten sich ihre Wege vorübergehend. Eine der Schwestern wandte sich nach links, die andere ging den Gang rechts hinunter Richtung Medikamentenzimmer. Auf dem Weg dorthin erinnerte sich Josephine an den gutaussehenden Vater ihrer Patientin Sina, der mit der neuen Frauenärztin am vergangenen Abend dort gestanden und sich unterhalten hatte.
»Schnieker Typ. So einen hätte ich auch gerne«, murmelte sie verträumt und zog den Schlüsselbund aus der Kitteltasche. Es dauerte einen Moment, bis sie den richtigen gefunden hatte. Er klimperte leise, während sie ihn ins Schloss nestelte und endlich aufsperren konnte. Gewissenhaft wie immer machte sich Josephine an die Arbeit und verglich fein säuberlich die Liste der Entnahmen mit dem tatsächlichen Bestand.
Schwester Lydia hatte ihre Arbeit gerade beendet und war im Begriff, ins Schwesternzimmer zurückzukehren, als ihr Josephine im Laufschritt entgegen kam. Schon vermutete sie eine weitere Clownerie, als sie die besorgte Miene der Freundin bemerkte.
»Was ist denn mit dir passiert? Man könnte meinen, der Leibhaftige ist hinter dir her!«, versuchte sie zu scherzen, als Josephine atemlos vor ihr Halt machte.
Ihr war ganz und gar nicht zum Lachen zumute.
»Stell dir vor: Es wurden Medikamente gestohlen. Ausgerechnet welche von den Opiaten.«
Schlagartig verging auch Lydia das Lachen.
»Bist du sicher?«, fragte sie entgeistert.
»Ich hab mindestens fünf Mal nachgezählt. Und es fehlen nicht nur ein paar Stück, sondern gleich mehrere Blister aus verschiedenen Packungen. Da hat einer ganz genau gewusst, was er tut, und darauf gehofft, dass der Diebstahl auf diese Weise nicht entdeckt wird. Wenn das die Chefin erfährt, gibt es richtig Ärger.«
»Zu Recht«, empörte sich Schwester Lydia. »Wir müssen das sofort melden.«
»Dann wird sie fragen, ob wir einen Verdacht haben«, gab Josephine unglücklich zurück.
Es widerstrebte ihr nichts so sehr, als eine möglicherweise unschuldige Person in Schwierigkeiten zu bringen.
Lydia maß ihre Kollegin mit einem forschenden Blick aus schmalen Augen.
»Und? Haben wir?«
Sie bekam nicht sofort Antwort. Josephine hatte sich auf die Tischkante gesetzt und kaute nachdenklich auf einem Fingernagel. Wieder musste sie an den gutaussehenden Herrn Meurer denken. Doch ihre Gedanken wanderten gleich weiter zu ihrer Kollegin, mit der sie an der Ecke des Klinikflurs um ein Haar zusammengestoßen wäre. Sie erinnerte sich an die Blister, die auf den Boden gefallen waren, und an Carinas Eile, sie einzusammeln, bevor Josephine Gelegenheit gehabt hatte, ihr zu helfen. Und war nicht der Blick der Kollegin unsicher und ein wenig ängstlich gewesen?
»Ich weiß nicht ...«, sagte sie langsam.
Doch Lydia ließ nicht locker.
»Los, spuck’s schon aus!«, forderte sie ihre Freundin so energisch auf, dass sich Josephine nicht länger zur Wehr setzen konnte und wollte.
»Ich glaub, dass es eine von den Lernschwestern war!«, platzte sie heraus. »Carina, du weißt schon.«
Lydias Augen wurden groß und rund wie Untertassen.
»Waaaaasss? Der Schwarm vom Cornelius?« Es war ein offenes Geheimnis, dass der Leiter der Pädiatrie und Fees Bruder Mario Cornelius und die Lernschwester heftig miteinander flirteten.
»Siehst du!«, seufzte Schwester Josephine unglücklich. »Du kannst es auch nicht glauben. Aber ich bin mit ihr zusammen gestoßen und hab gesehen, dass sie Blister mit Tabletten hatte.«
»Bist du wirklich sicher, dass es dieselben Medis waren, die jetzt fehlen?«, fragte Lydia noch einmal nach.
Der Gedanke daran, was ihre junge und überall beliebte Kollegin erwartete, bereitete ihr sichtlich Sorgen.
Unglücklich schüttelte Josephine den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich muss meine Beobachtung trotzdem Frau Dr. Behnisch melden.«
Das sah auch Lydia ein, und sie nickte düster.
»Na, das kann ja heiter werden«, seufzte sie und sah ihrer Freundin und Kollegin dabei zu, wie sie zum Telefon ging.
Jenny Behnisch war bekannt dafür, oft bis spät in die Nacht zu arbeiten. Ein Versuch war es auf jeden Fall wert, und tatsächlich meldete sie sich schon nach dem dritten Klingeln.
*
»Seit wann hast du diese Beschwerden?«, erkundigte sich Dr. Mario Cornelius fürsorglich bei seinem jungen Patienten, der eben in die Notaufnahme gebracht worden war. Als Kinderarzt hatte man ihn schon im Vorfeld informiert. Trotz der frühen Stunde – es war erst kurz nach acht Uhr – hatte er nicht gezögert, seinen Kaffee stehen gelassen und war gleichzeitig mit Tommi Werner in der Notaufnahme angekommen.
»Seit heute Morgen«, stöhnte der zwölfjährige Junge. Er war leichenblass und klagte über Atemnot und Übelkeit. »Ich bin erst mal in die Schule gegangen und hab dann doch irgendwann den Notarzt holen lassen.« Sein Atem ging stoßweise und feine Schweißperlen standen auf seiner runden Kinderstirn.
»Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«, fragte Mario und blickte hoch.
Aus den Augenwinkeln hatte er Schwester Carina entdeckt, die ein paar Schachteln mit frisch sterilisiertem Operationsbesteck ins Zimmer brachte. Während sie es in den entsprechenden Schubladen verstaute, ignorierte sie den gutaussehenden Arzt wohlweislich. Nur das versonnene Lächeln auf ihrem Gesicht verriet, dass sie sich seiner Gegenwart wohl bewusst war. Schnell konzentrierte sich Mario wieder auf seinen jungen Patienten, der ihn entsetzt anstarrte.
»Nein. Und das dürfen sie auch nicht erfahren. Meine Mama würde mir den Kopf abreißen.«
»Wieso das denn?«, fragte Dr. Cornelius überrascht nach.
Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine besorgte Mutter ihren Sohn schimpfen würde, weil er Hilfe gesucht hatte.
Diesmal antwortete Tommi nicht sofort. Verlegen kaute er auf der Unterlippe, während Carina der Schublade mit einem gekonnten Hüftschwung einen Stoß versetzte.
Ein Pfleger, der ebenfalls im Raum war, pfiff anerkennend. Schwester Carina schenkte ihm ein charmantes Lächeln, ehe sie das Zimmer verließ, ohne auch nur ein Wort mit Dr. Cornelius gewechselt zu haben.
Doch Mario registrierte diese Aktion ohnehin nur am Rande. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte jetzt dem Jungen, der sichtlich mit sich haderte.
»Wegen Mathe«, rang Tommi sich schließlich zu einer ehrlichen Antwort durch. »Ich hab in der fünften Stunde Schulaufgabe. Aber wenn ich diesmal wieder ’ne Fünf schreib, ist meine Versetzung gefährdet. Deshalb darf ich diesmal keinen Blackout haben.« Er hob die Augen und sah Mario Cornelius verzweifelt an. »Können Sie mir nicht ein paar Beruhigungsmittel verschreiben? Dann schaff ich das bestimmt.«
Ungläubig schüttelte Mario den Kopf.
»Augenblick mal. Du bist also hier, weil du Angst vor einer Schulaufgabe hast?«
Unschuldig zuckte Tommi mit den Schultern.
»Könnte schon sein.«
Auf so eine Vermutung konnte sich Dr. Cornelius natürlich nicht verlassen, und so wurde Tommi zunächst von Kopf bis Fuß untersucht. Schließlich konnte der Kinderarzt nicht ausschließen, dass sein Patient nicht vielleicht doch krank war.
»Tja, du bist kerngesund«, konnte Mario dem Jungen das freudige Ergebnis wenig später überbringen.
Doch Tommi dachte nicht daran, sich zu freuen.