sie bei ihrer Mutter Halt und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich an die Arbeit machte.
Zweifelnd sah Felicitas ihrer ältesten Tochter nach. Dann machte auch sie sich auf den Weg, um sich umzuziehen, ehe sie Lenni bei der Zubereitung des Salats behilflich war. Und wenn sie ehrlich war, freute sie sich schon auf den Genuss des Omelettes, das wie jede Speise der ambitionierten Köchin ein wahrer Genuss sein würde.
*
Nachdem sich Dr. Laura Merz’ furchtbarer Verdacht bestätigt hatte, fühlte sie sich wie betäubt. Mechanisch kümmerte sie sich um ihre Patienten, begleitete die Visite, untersuchte Frauen, verschrieb Medikamente.
»Schluss für heute!«, verkündete ihr Kollege Michael Sporer endlich und zog den Kittel aus. »War ein langer Tag.« Sein zufriedener Blick ruhte auf Laura, die mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Kühlschrank des Aufenthaltsraums lehnte und vor sich hin starrte. Noch immer wusste sie nicht, wie sie sich fühlen sollte. Trauerte sie um Achim? Oder fühlte sie sich nur erleichtert, dass dieser Wahnsinn nun ein für alle Mal ein Ende hatte? Sie wusste es nicht. »Alle Achtung, Sie haben sich wacker geschlagen«, lobte Dr. Sporer sie in ihre Gedanken hinein.
Es dauerte einen Augenblick, ehe Laura begriff, dass er mit ihr sprach.
»Vielen Dank«, lächelte sie schmal.
»Sehr müde?«
»Ach, das wird schon wieder«, winkte sie schnell ab, um weiteren Fragen zuvorzukommen.
Michael Sporer musterte sie noch einen Moment. Da er aber selbst müde war, sann er darauf, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
»Sie scheinen wirklich ein harter Brocken zu sein. Ich bin froh, dass Sie unser Team verstärken. Leute wie Sie werden dringend gebraucht.« Mit diesen freundlichen Worten verabschiedete er sich von der neuen Kollegin und trat seinen wohlverdienten Feierabend an.
Auch Laura hätte gehen können. Da sie aber die Einsamkeit ihrer Wohnung fürchtete und die Spuren, die Achim dort hinterlassen haben könnte, zog sie es vor, in ihr Büro zurückzukehren.
Laura wusste nicht mehr, wie lange sie dort am Schreibtisch gesessen hatte, als es klopfte.
»Ja, bitte?« Überrascht blickte sie auf. Erst als Benedikt eintrat, erinnerte sie sich an das Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe. »Ach, du bist es.« Ein feines Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Komm rein. Kann ich dir was zu trinken anbieten?«
»Laura, ich hab heute den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen«, erwiderte Benedikt, nachdem er sich für ein Glas Mineralwasser entschieden hatte.
Gemeinsam machten sie es sich in der kleinen Besucherecke gemütlich. Laura setzte sich Benedikt gegenüber in einen Sessel und suchte in ihrer Kitteltasche nach dem Mobiltelefon, das sie den ganzen Tag nicht herausgeholt hatte.
»Tatsächlich! Drei Anrufe in Abwesenheit und zwei Nachrichten«, las sie vom Display ab.
Eine verlegene Röte stieg Benedikt in die Wangen, und er lächelte entschuldigend.
»Hoffentlich denkst du jetzt nicht, dass ich dich verfolge«, sagte er. »Ehrlich gesagt war ich mir aber irgendwann nicht mehr sicher, ob unsere Begegnung gestern nicht nur ein schöner Traum war.«
»Und jetzt?«, fragte Laura Merz und drehte ihr Glas in den Händen. »Was denkst du jetzt?«
Diese Frage überraschte ihren Jugendfreund.
»Was ist mit dir? Stimmt was nicht?«
Seine Stimme war so weich und mitfühlend, dass Laura sich am liebsten neben ihn gesetzt und den Kopf auf seine Schulter gelegt hätte. Doch sie wagte es nicht.
»Alles in Ordnung. Ich hatte einen harten Tag.«
»Willst du darüber reden?«, ließ die nächste Frage nicht lange auf sich warten.
Spontan schüttelte Laura den Kopf.
»Ich war heute bei deiner Tochter«, wechselte sie abrupt das Thema. Sie brachte es einfach nicht über sich, über Achim zu sprechen. »Eine sehr nette junge Frau. Leider hatte ich nicht viel Zeit und konnte nur ein paar Worte mit ihr wechseln.«
Benedikt lachte. Es klang traurig, bitter, rau.
»Stimmt. Sie ist nett. Und genauso unvernünftig. Aber darüber haben wir ja gestern schon gesprochen.« Er sah hinüber zu Laura, die angespannt auf der äußersten Kante des Sessels saß. Benedikt bemerkte sehr wohl, dass sie etwas beschäftigte. Da sie aber nicht sprechen, er sie aber auch nicht wieder allein lassen wollte, beschloss er, seine eigene Geschichte zu erzählen. Vielleicht war das Anreiz für sie, sich ihm ebenfalls zu öffnen. Zumindest war das seine vage Hoffnung, als er einen Schluck Wasser trank und dann zu erzählen begann.
»Weißt du, Sina und ich sind schon eine ganze Weile auf uns allein gestellt. Kurz nachdem ihre Mutter mit einem Latino durchgebrannt ist, ist meine Mutter gestorben, die uns eigentlich beistehen wollte. Mein Vater hat diesen Verlust nie wirklich überwunden und sich komplett zurückgezogen. Seitdem sind wir allein.«
Dankbar, nicht über sich sprechen zu müssen, hatte Laura aufmerksam zugehört.
»Gab es danach keine andere Frau mehr in deinem Leben?«, stellte sie die naheliegende Frage.
Benedikt drehte sein Glas in den Händen und schüttelte den Kopf.
»Ich habe es nicht mehr gewagt, eine enge Beziehung einzugehen. Schon wegen Sina nicht. Ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, nicht mehr wichtig zu sein.« Nachdenklich starrte er auf das Wasser im Glas, auf die Kohlensäureperlen, die an die Oberfläche stiegen und dort lautlos zerplatzten. »Aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das die richtige Entscheidung war.« Er hielt inne und dachte kurz nach. »Tja, jetzt kennst du meine Geschichte«, seufzte er dann.
Laura, die spürte, dass nun sie an der Reihe war, suchte händeringend nach einem Ausweg.
»Du warst schon immer so ein guter Mensch«, machte sie ihrem Jugendfreund ein ehrliches Kompliment. »Aber wie hast du es geschafft, Kind und Job unter einen Hut zu bekommen?«
Erfreut über ihr offensichtliches Interesse fuhr Benedikt fort.
»Das war ehrlich gesagt nicht leicht. Ist es bis heute nicht, wie die jüngste Geschichte beweist. Sina fehlt die Mutter. Ein Mensch, der ihr zeigen kann, was es heißt, eine Frau zu sein ... eine Frau ...« Versonnen lauschte er dem Nachhall dieses Wortes und hob unwillkürlich seinen Blick, um Laura anzusehen. »Bis auf die Nummer mit den Frauenkleidern hab ich alles versucht«, versuchte er zu scherzen, wurde aber gleich wieder ernst. »Aber offenbar bin ich Sina doch nicht gerecht geworden. Sonst hätte sie nicht all diesen Blödsinn gemacht.«
Trotz ihres eigenen Kummers wurde Lauras Herz weit und weich vor Zuneigung für diesen ratlosen Mann, der so schonungslos offen über sich und seine vermeintlichen Fehler sprach.
»Ich bin mir sicher, dass du ein großartiger Vater bist«, sagte sie so innig, dass Benedikts Herz schneller schlug. Seit er seine Jugendliebe wiedergesehen hatte, stand seine Welt kopf.
»Das ehrt mich sehr, vielen Dank«, erwiderte er rau. »Aber ich rede die ganze Zeit nur von mir. Dabei will ich viel lieber was von dir erfahren.«
Doch das schienen genau die falschen Worte gewesen zu sein.
Augenblicklich verschloss sich Lauras Miene wieder. Auch ihre Körperhaltung veränderte sich, und abwehrend verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper.
»Ich glaube, ich möchte jetzt allein sein«, erklärte sie schroff.
Benedikt konnte sich diese Verwandlung nicht erklären. Ihm klangen noch Lauras Worte vom Vortag im Ohr, ihre Bemerkung über ihr unglückliches Liebesleben. Die Freude über ihr unvermutetes Wiedersehen war offensichtlich gewesen. Was war seitdem geschehen? War sie in einer schwierigen Situation? Legte ihr Partner ihr gar Steine in den Weg? Fragen über Fragen, auf die er die Antworten nicht kannte.
»Manchmal tut es ganz gut, wenn man sich den Kummer von der Seele reden kann«,