Patricia Vandenberg

Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 6 – Arztroman


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ihrem Bruder. »Ich rufe ein Taxi, das dich hinbringt«, beschloss der junge Arzt, dem dieser Anblick zu Herzen ging.

      Anneka wollte schon protestieren. Doch ein strenger Blick aus den Augen ihres Bruders ließ sie schweigen. Sie hatte Dannys Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Draußen warteten Menschen, die weitaus schlimmere Probleme hatten als sie selbst. Das war Anneka Nordens tiefe Überzeugung, nichtahnend, was die nahe Zukunft für sie bereit hielt.

      *

      »Wir brauchen dringend noch mehr Blutkonserven. Schnell!«

      »Brand- und Schnittverletzungen durch herumfliegende Splitter. Unstillbare Blutungen.«

      »Ist OP 2 frei? Dann rein mit ihr!«

      So und anders klangen die hektischen Stimmen an Annekas Ohr, kurz nachdem sie vom Taxifahrer in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik abgeliefert worden war. Trotz des Tohuwabohus hatte sich ein Pfleger ihrer angenommen, nahm ihre Daten auf und studierte die Informationen, die Danny dem Fahrer mitgegeben hatte.

      Überall hasteten aufgeregte Schwestern und Ärzte durch die Gänge. Diejenigen der meist blutüberströmten Patienten, die noch selbst laufen konnten, wurden geführt, andere, die dazu nicht mehr in der Lage waren, vorbeigefahren.

      »Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte eine Schwester dicht neben Annekas Liege.

      »Gasexplosion in einem Mietshaus. Offenbar hat jemand versucht, sich umzubringen«, beantwortete ein Sanitäter diese Frage. Eilig schob er eine Liege mit einem bis zur Unkenntlichkeit entstellten Mann so schnell an Anneka vorbei, dass ihr der Anblick erspart blieb. »Der Kollege Norden ist glücklicherweise vor Ort und sortiert schon mal vor. Bis jetzt haben wir fünf Schwerverletzte. Hoffentlich werden es nicht mehr.«

      »Das hoffe ich allerdings auch«, seufzte die Schwester ergeben und lief davon, um einem Arzt zu assistieren, der um Hilfe gebeten hatte.

      Der Pfleger, der Annekas Liege in einer Ecke der Notaufnahme abgestellt hatte, sah sich hilfesuchend um.

      »Hallo, wir brauchen einen Arzt«, rief er in seiner Not schließlich in die Hektik hinein in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen.

      »Welche Station?«, bekam er zu seiner Erleichterung fast sofort eine Antwort.

      Aus dem Chaos war eine Schwester neben Annekas Liege aufgetaucht und lächelte sie trotz des allgemeinen Trubels tröstend an.

      »Gynäkologie«, gab der Pfleger zurück, und Schwester Annabel nickte.

      »Ich rufe oben an. Es wird sofort jemand kommen.«

      Erleichtert sah ihr der Pfleger nach.

      »Da haben wir ja richtig Glück im Unglück gehabt«, stellte er fest und schickte Anneka einen fragenden Blick. »Wie fühlen Sie sich?«

      »Wenn ich mir das ganze Unglück hier ansehe, dann würd ich am liebsten aufstehen und heimgehen«, tat sie ihre ehrliche Meinung kund und musterte ihre Umgebung mit tiefem Mitgefühl.

      »Das ist die falsche Einstellung«, folgte der Tadel auf den Fuß. »Sie sind das Maß aller Dinge, nicht alle anderen. Und Sie haben einen Grund, warum Sie hier sind. Hier steht es schwarz auf weiß«, erinnerte der junge Mann sie sanft, aber bestimmt daran, dass auch ihre Schmerzen und Beschwerden real waren und sie ein Recht auf Behandlung und Linderung hatte. »Also, wie geht es Ihnen?«

      Anneka haderte kurz mit sich, dann gab sie sich einen Ruck und lächelte schmal.

      »Ehrlich gesagt nicht so gut. Die Schmerzen sind schon ziemlich schlimm.«

      »Ihnen wird gleich geholfen. Es kann nicht mehr lange dauern«, versprach er, als der nächste Funkspruch auf seinem Gerät einging. Er hörte die Nachricht an, ehe er sich schweren Herzens von Anneka verabschiedete. »Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich mich jetzt von Ihnen verabschieden muss. Aber Dr. Norden hat Nachschub angekündigt. Ich werde gebraucht.«

      Als Anneka den Namen ihres Vaters hörte, erfüllte sie unsagbarer Stolz. Wenn sie sich vorstellte, wie er jetzt am Unglücksort erste Hilfe leistete und den Menschen Hoffnung gab, wollten ihr Tränen in die Augen steigen. Doch für den jungen Pfleger riss sie sich am Riemen. Sie bedankte sich und versprach ihm trotz ihrer Schmerzen augenzwinkernd, nicht davonzulaufen, sondern brav zu warten, bis ein Arzt kam. Auf keinen Fall wollte sie ihn zusätzlich beunruhigen und sah ihm nach, wie er eilig davon hastete.

      *

      Blass und sichtlich mitgenommen hatte Dr. Laura Merz ihren ersten Arbeitstag in Angriff genommen. Dabei war es noch nicht einmal der Abschied von Achim, der ihr zu schaffen machte. Ganz im Gegenteil fühlte sie sich erleichtert, diesen längst fälligen Schnitt endlich vollzogen zu haben. Es war der Diebstahl des Rauschmittels, der ihr schwer auf der Seele lastete. Glücklicherweise schien das Fehlen des Medikaments noch nicht aufgefallen zu sein. Darüber hinaus hatte Laura von der ersten Minute an so viel zu tun, dass sie gar nicht mehr dazu kam, sich noch weiter Gedanken zu machen.

      Sie war gerade im Gespräch mit einem Kollegen, der sie über die Gepflogenheiten auf der Station aufklärte, als die Oberschwester herbei eilte.

      »Schwester Annabel aus der Notaufnahme hat angerufen. Eine junge Frau mit gravierenden Bauchschmerzen, Verdacht auf Ovarialzyste.«

      »Warum kümmert sich unten niemand um sie, bis eine Diagnose feststeht?«, fragte Dr. Sporer überrascht.

      »Es gab eine Gasexplosion. Die Notaufnahme ist gerade überschwemmt mit Notfällen.«

      »Oh, wenn das so ist ..." Ohne Zögern wandte sich Michael Sporer an seine neue Kollegin.

      »Das ist doch ein guter Einstieg!«, forderte er sie auf und lächelte ihr aufmunternd zu.

      Obwohl Laura erfahren war, schlug ihr das Herz bis zum Hals, als sie höchstpersönlich in die Notaufnahme eilte, um die Patientin in Empfang zu nehmen. Das lag nicht nur daran, dass dies ihre erste, offizielle Amtshandlung war. Es lag auch daran, dass ihr ein furchtbarer Gedanke in den Sinn gekommen war. Als sie die Notaufnahme betrat und ihr das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst wurde, wurde sie noch blasser. Sie war so nervös, dass sie für einen Moment sogar vergaß, warum sie in die Notaufnahme gekommen war. Sie sah sich suchend um und entdeckte eine Schwester. Inmitten des Gedränges stand sie neben der Liege eines Patienten und nahm seine Daten auf.

      Kurz entschlossen drängte sich Laura zu ihr durch.

      »Wo war das? Ich meine, die Explosion?«, fragte sie mit bebender Stimme.

      Die Schwester hob kurz den Kopf von ihrem Klemmbrett und zuckte ratlos mit den Schultern.

      »Keine Ahnung.«

      »Ganz in der Nähe vom Einkaufszentrum«, gab überraschend der Patient auf der Liege die gewünschte Auskunft. Um seine Stirn war ein blutgetränkter Verband gewickelt, doch seine Augen waren klar und sein Verstand wach. »Angeblich hat ein Mann versucht, sich in die Luft zu sprengen. Ich versteh das nicht«, schimpfte er vor sich hin. »Warum können die Leute nicht andere aus dem Spiel lassen, wenn sie mit ihrem Leben nicht mehr klarkommen?«

      Fassungslos hatte Laura zugehört. Obwohl sie keine Beweise, nicht den kleinsten Hinweis darauf hatte, dass es sich bei dem Mann um Achim handelte, wusste sie plötzlich mit irritierender Gewissheit Bescheid. Es war seine Wohnung, die in der Nähe des Einkaufszentrums lag. Er hatte Probleme. Und er war Feuerwehrmann und verfügte über das nötige Knowhow, um eine Explosion herbeizuführen.

      Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich.

      »Ist der Mann auch hier? Ich meine, hat er überlebt?«

      »Ist mir doch egal«, gab der Verletzte mürrisch zurück. »Ich bin froh, dass ich davongekommen bin.«

      Die Schwester hatte ihre Aufzeichnungen komplettiert und legte das Klemmbrett auf das Bett des Patienten. Mit einem sicheren Fußtritt löste sie die Bremse und sah Dr. Merz herausfordernd an.

      »Was halten Sie davon, wenn Sie sich nützlich machen, statt überflüssige Fragen zu stellen, die ihm Augenblick keiner beantworten kann?« So frech