Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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Dingbegriffe10 von universeller (wir pflegen zu sagen: »historischer«) Bedeutung. Ihr Arbeitsgebiet ist gegeben, wo das Wesentliche, d.h. das für uns Wissenswerte an den Erscheinungen, nicht mit der Einordnung in einen Gattungsbegriff erschöpft ist, die konkrete Wirklichkeit als solche uns interessiert.

      So sicher es nun ist, daß außer der reinen Mechanik einerseits, gewissen Teilen der Geschichtswissenschaft andererseits, keine der empirisch vorhandenen »Wissenschaften«, deren Arbeitsteilung ja auf ganz anderen, oft »zufälligen« Momenten beruht, nur unter dem einen oder nur unter dem anderen Zweckgesichtspunkt ihre Begriffe bilden kann – es wird davon noch zu reden sein –, so sicher ist doch, daß jener Unterschied in der Art der Begriffsbildung an sich ein grundsätzlicher ist, und daß jede Klassifikation der Wissenschaften unter methodischen Gesichtspunkten ihn berücksichtigen muß11.

      Da nun Roscher seine eigene Methode als »historisch« bezeichnet, müßte offenbar der Nationalökonomie bei ihm ausschließlich die Aufgabe zufallen, nach Art der Geschichtswissenschaft und mit den gleichen Mitteln wie diese die volle Wirklichkeit des Wirtschaftslebens anschaulich zu reproduzieren, im Gegensatz zu dem Streben der klassischen Schule, das gesetzlich gleichmäßige Walten einfacher Kräfte in der Mannigfaltigkeit des Geschehens aufzudecken.

      In der Tat findet sich bei Roscher gelegentlich die allgemein gehaltene Bemerkung, die Nationalökonomie habe »die Verschiedenheit der Dinge mit demselben Interesse zu studieren wie die Aehnlichkeiten«.

      Mit Befremden wird man daher S. 150 des »Grundrisses« die Bemerkung lesen, daß die Aufgaben der »historischen« Nationalökonomie vor Roscher besonders durch Adam Smith, Malthus und Rau gefördert worden seien, und (das. S. V) die beiden letzteren als diejenigen Forscher bezeichnet finden, denen der Verfasser sich besonders nahestehend fühle. Nicht minder erstaunlich muß es berühren, wenn S. 2 die Arbeit des Naturforschers und des Historikers als einander ähnlich, S. 4 die Politik (deren Teil die »Staatswirtschaftslehre« ist) als die Lehre von den Entwickelungsgesetzen des Staates bezeichnet wird, wenn weiterhin Roscher – wie bekannt – geflissentlich immer wieder von »Naturgesetzen« der Wirtschaft spricht, und wenn endlich S. IV geradezu die Erkenntnis des Gesetzmäßigen in der Masse der Erscheinungen als die Erkenntnis des Wesentlichen bezeichnet12 und als einzig denkbare Aufgabe aller Wissenschaft vorausgesetzt wird13. Da nun wirkliche »Naturgesetze« des Geschehens nur auf der Grundlage begrifflicher Abstraktionen unter Eliminierung des »historisch Zufälligen« formuliert werden könnten, so müßte danach der letzte Zweck der nationalökonomischen Betrachtung die Bildung eines Systems von Gattungs- und Gesetzes-Begriffen und zwar von logisch möglichst vollkommenen, das heißt möglichst aller individuellen »Zufälligkeiten« entkleideten, also möglichst abstrakten Begriffen sein, obwohl doch Roscher gerade diesen Zweck prinzipiell abgelehnt zu haben schien. Allein, es schien eben nur so. Die Kritik Roschers richtet sich in Wahrheit nicht gegen die logische Form der klassischen Lehre, sondern gegen zwei ganz andere Punkte, nämlich 1. gegen die Deduktion von absolut geltenden praktischen Normen aus abstrakt-begrifflichen Obersätzen – dies ist es, was er »philosophische« Methode nennt –, 2. gegen das bisher geltende Prinzip der Stoffauswahl der Nationalökonomie. Roscher zweifelt prinzipiell nicht daran, daß der Zusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen nur als ein System von Gesetzen begriffen werden könne und solle14. »Kausalität« und »Gesetzlichkeit« ist ihm identisch, erstere besteht nur in Form der letzteren15. Es soll aber – darauf kommt es Roscher an – die wissenschaftliche Arbeit das Walten der Gesetze nicht nur im Nebeneinander, sondern ebenso im Nacheinander der Erscheinungen aufsuchen, neben dem gesetzlichen Zusammenhang der Gegenwartserscheinungen auch und vor allem die Entwicklungsgesetze des geschichtlichen Ablaufs der Erscheinungen feststellen.

      Es entsteht nun bei diesem Standpunkt Roschers die Frage: Wie denkt er sich das prinzipielle Verhältnis zwischen Gesetz und Wirklichkeit im Ablauf der Geschichte? Ist es sicher, daß derjenige Teil der Wirklichkeit, den Roscher in sein Netz von Gesetzen einfangen will, derart in das zu bildende Begriffssystem eingehen kann, daß das letztere wirklich das für unsere Erkenntnis Wesentliche der Erscheinungen enthält? Und wie müßten, wenn das der Fall sein soll, diese Begriffe in logischer Hinsicht beschaffen sein? Hat Roscher diese logischen Probleme als solche erkannt? –

      Roschers methodisches Vorbild war die Arbeitsweise der deutschen historischen Juristenschule, auf deren Methode er sich, als der seinigen analog, ausdrücklich beruft. In Wahrheit handelt es sich jedoch – wie im wesentlichen schon Menger erkannt hat – um eine charakteristische Umdeutung dieser Methode. Savigny und seiner Schule kam es in ihrem Kampfe gegen den gesetzgeberischen Rationalismus der Aufklärungszeit auf den Nachweis des prinzipiell irrationalen, aus allgemeinen Maximen nicht deduzierbaren Charakters des in einer Volksgemeinschaft entstandenen und geltenden Rechtes an; indem sie dessen untrennbaren Zusammenhang mit allen übrigen Seiten des Volklebens betonten, hypostasierten sie, um den notwendig individuellen Charakter jedes wahrhaft volkstümlichen Rechts verständlich zu machen, den Begriff des – notwendig irrational-individuellen – »Volksgeistes« als des Schöpfers von Recht, Sprache und den übrigen Kulturgütern der Völker. Dieser Begriff »Volksgeist« selbst wird dabei16 nicht als ein provisorisches Behältnis, ein Hilfsbegriff zur vorläufigen Bezeichnung einer noch nicht logisch bearbeiteten Vielheit anschaulicher Einzelerscheinungen, sondern als ein einheitliches reales Wesen metaphysischen Charakters behandelt und nicht als Resultante unzähliger Kultureinwirkungen, sondern umgekehrt als der Realgrund aller einzelnen Kulturäußerungen des Volks angesehen, welche aus ihm emanieren.

      Roscher stand durchaus innerhalb dieses, in seiner Entstehung in letzter Linie auf gewisse Gedankengänge Fichtes, zurückgehenden Vorstellungskreises; auch er glaubte, wie wir sehen werden, an die metaphysische Einheitlichkeit des »Volkscharakters«17 und sah in dem »Volk« dasjenige Individuum18, welches wie die allmähliche Entwickelung der Staatsform und des Rechts so die der Wirtschaft an sich erlebt als einen Teil seines nach Analogie der Lebensentwicklung des Menschen gedachten Lebensprozesses. »Die Volkswirtschaft entsteht zugleich mit dem Volke. Sie ist ein natürliches Produkt der Anlagen und Triebe, welche den Menschen zum Menschen machen«19. Der Begriff »Volk« selbst wird dabei nicht weiter erörtert. Daß er nicht als abstrakter, inhaltsarmer Gattungsbegriff gedacht werden soll, scheint sich schon daraus zu ergeben, daß Roscher gelegentlich (§12 Anm. 2) der Verdienste Fichtes und Adam Müllers gegenüber der »atomistischen« Aufassung der Nation als eines »Haufens von Individuen« gedenkt. Er ist (§13) zu vorsichtig, den Begriff »Organismus« ohne Vorbehalt als eine Erklärung des Wesens des »Volkes« oder der »Volkswirtschaft« anzusehen, betont vielmehr, daß er jenen Begriff nur als »den kürzesten gemeinsamen Ausdruck vieler Probleme« verwenden wolle; allein das eine geht aus diesen Aeußerungen jedenfalls hervor, daß ihm die rein rationalistische Betrachtung des »Volks« als der jeweiligen Gesamtheit der politisch geeinten Staatsbürger nicht genügt. An Stelle dieses durch Abstraktion gewonnenen Gattungsbegriffs trat ihm vielmehr die anschauliche Totalität eines als Kulturträger bedeutungsvollen Gesamtwesens entgegen.

      Die logische Bearbeitung dieser unendlich mannigfaltigen Totalitäten müßte nun, um historische, nicht durch Abstraktion entleerte Begriffe zu bilden, aus ihnen die für den konkreten Zusammenhang, der jeweils zur Erörterung steht, bedeutungsvollen Bestandteile herausheben. Roscher war sich des prinzipiellen Wesens dieser Aufgabe wohl bewußt: ihm ist das logische Wesen der historischen Begriffsbildung keineswegs fremd gewesen. Er weiß, daß eine Auslese aus der Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen in der Richtung nicht des Gattungsmäßigen, sondern des »historisch« Wesentlichen ihre Voraussetzung ist20. Aber hier tritt nun die »organische« Gesellschaftstheorie21 mit ihren unvermeidlichen biologischen Analogien dazwischen und erzeugt bei ihm – wie bei so vielen modernen »Soziologen« – die Vorstellung, daß beides notwenig identisch sei, und also das Wiederkehrende in der Geschichte als solches das allein Bedeutungsvolle sein könne22. Roscher ist daher der Meinung, mit der anschaulichen Mannigfaltigkeit der »Völker«