Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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Parallelismen nähert er sich einer (vermeintlichen) Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge der Staatsformen, die nach ihm den Charakter einer bei allen Kulturvölkern anzutreffenden Entwickelung besitzt, indem die Ausnahmen, welche sich finden, durchweg derart erklärt werden können, daß sie die Geltung der Regel nicht aufheben, sondern bestätigen. Der Versuch, die (angeblich) typischen politischen Entwickelungsstufen in den Zusammenhang der Gesamtkultur der einzelnen Völker zu stellen und empirisch zu erklären, wird nicht gemacht. Sie sind eben Altersstufen, welche das Gattungswesen »Volk« in seinem Lebensprozeß an sich erlebt72, – wie aber der Vorgang dieses »Erlebens« eigentlich zustandekommt, wird trotz Beibringung eines gewaltigen Tatsachenmaterials nicht zu erklären versucht – wie wir wissen, weil es eben nach Roschers Meinung nicht erklärbar ist. –

      In noch markanterer Weise tritt das gleiche hervor bei Roschers Analyse des Nebeneinander der wirtschaftlichen Vorgänge und ihres »statischen« Zusammenhangs untereinander – der Aufgabe, auf welche sich die Doktrin bisher im wesentlichen beschränkt hatte. Auch hier zeigen sich die Konsequenzen von Roschers »organischer« Auffassung sogleich bei der Erörterung des Begriffs der »Volkswirtschaft«. Es versteht sich, daß sie ihm kein bloßes Aggregat von Einzelwirtschaften ist, sowenig wie ihr Analogon, der menschliche Körper, »ein bloßes Gewühl chemischer Wirkungen« sei. – Vor wie nach ihm bildet nun das sachliche wie methodische Grundproblem der Nationalökonomie die Frage: Wie haben wir die Entstehung und den Fortbestand nicht auf kollektivem Wege zweckvoll geschaffener und doch – für unsere Auffassung – zweckvoll funktionierender Institutionen des Wirtschaftslebens zu erklären? – ganz ebenso wie das Problem der Erklärung der »Zweckmäßigkeit« der Organismen die Biologie beherrscht. Für das Nebeneinander der wirtschaftlichen Erscheinungen heißt das also: in welcher begrifflichen Form ist das Verhältnis der Einzelwirtschaften zu dem Zusammenhang, in den sie verflochten sind, wissenschaftlich zu konstruieren? Hierauf ist nach der Ansicht Roschers ebenso wie nach derjenigen seiner Vorgänger und meisten Nachfolger nur auf Grund bestimmter Annahmen über die psychologischen Wurzeln des Handelns der Einzelnen eine Antwort zu geben73. Dabei wiederholen sich nun die Widersprüche in Roschers methodischem Verhalten, die wir oben in seiner Geschichtsphilosophie hervortreten sahen. Da Roscher die Vorgänge des Lebens geschichtlich, das heißt in ihrer vollen Realität, betrachten zu wollen ankündigt, so sollte man voraussetzen, er werde, wie dies später, seit Knies, seitens der historischen Nationalökonomie im Gegensatz zu den Klassikern geschah, die konstante Einwirkung nicht ökonomischer Faktoren auch auf das wirtschaftliche Handeln des Menschen: die kausale Heteronomie der menschlichen Wirtschaft, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellen.

      Da aber Roscher an der Formulierung von Gesetzen der Wirtschaft als der wissenschaftlichen Grundaufgabe festhält, so hätte alsdann auch hier wieder das Problem entstehen müssen, wie einerseits die isolierende Abstraktion gegenüber der Realität des Lebens aufgegeben, andererseits doch die Möglichkeit gesetzlich-begrifflicher Erkenntnis gewahrt werden sollte. Was Roscher anlangt, so hat er jene Schwierigkeit gar nicht empfunden, und zwar hob ihn darüber die überaus einfache Psychologie hinweg, von der er in Anlehnung an die mit dem Begriff des »Triebes« arbeitende Aufklärungs-Psychologie ausging.

      Für Roscher ist der Mensch durchweg, auch auf dem Boden des wirtschaftlichen Lebens, beherrscht einerseits von dem Streben nach den Gütern dieser Welt, dem Eigennutz, daneben aber von einem umfassenden anderen Grundtriebe: der »Liebe Gottes«, welche die »Ideen der Billigkeit, des Rechtes, des Wohlwollens, der Vollkommenheit und inneren Freiheit« umfaßt und bei niemandem völlig fehlt (Syst., Bd. I § 11).

      Was das Verhältnis der beiden Triebe zueinander anlangt, so findet sich bei Roscher zunächst ein Ansatz zu einer rein »utilitarischen« Ableitung der sozialen Triebe direkt aus dem wohlverstandenen Eigeninteresse74. Allein dem wird nicht weiter nachgegangen, vielmehr ist es, entsprechend Roschers religiösen Anschauungen, der höhere, göttliche Trieb, welcher den irdischen Eigennutz, dessen Widerpart er ist und sein muß, im Zaum hält75, indem er sich mit ihm in den mannigfaltigsten Mischungsverhältnissen durchdringt und so die verschiedenen Abstufungen des Gemeinsinns erzeugt, auf denen das Familien-, Gemeinde-, Volks- und Menschheitsleben beruht. Je enger die sozialen Kreise, auf welche sich der Gemeinsinn bezieht, desto näher steht er dem Eigennutz; je weiter sie sind, desto mehr nähert er sich dem Trachten nach dem Gottesreiche. Die verschiedenen sozialen Triebe des Menschen sind also als Aeußerungsformen eines religiösen Grundtriebes in dessen Vermischung mit dem Eigeninteresse aufgefaßt.

      Man sollte nun bei dieser Anschauungsweise Roschers erwarten, daß er rein empirisch die Entstehung der einzelnen Vorgänge und Institutionen aus der Wirksamkeit jener beiden Triebe, deren Mischungsverhältnis im einzelnen Fall festzustellen wäre, zu erklären versuchen würde76.

      Roschers Verhalten ist aber ein anderes. Es konnte auch ihm nicht entgehen, daß auf den spezifischen Gebieten des modernen Wirtschaftslebens, im Verkehr der Börsen, Banken, im modernen Großhandel, in den kapitalistisch entwickelten Gebieten der Gütererzeugung, das wirkliche Leben von irgendwelcher Gebrochenheit des »wirtschaftlichen« Eigennutzes durch andere »Triebe« schlechterdings nichts zeigte. Demgemäß hat Roscher den gesamten auf den Eigennutz aufgebauten Begriffs- und Gesetzesapparat der klassischen Nationalökonomie ohne allen Vorbehalt übernommen. Die bisherige deutsche Theorie hatte nun – so insbesondere Hermann, auch Rau – der Alleinherrschaft des Eigennutzes im privaten Wirtschaftsleben77 die Herrschaft des Gemeinsinns im öffentlichen Leben an die Seite gestellt78, wobei einerseits die Aufteilung des gesamten Wirkungskreises des Menschen in Privatwirtschaft und öffentliche Tätigkeit79, und andererseits die Identifikation von Sein und Sollen80 das charakteristische Merkmal der »klassischen« Auffassungsweise war. Roscher hingegen lehnt diese Auffassung ab, weil, wie er im plötzlichen Fallenlassen seiner Psychologie bemerkt, Eigennutz und Gemeinsinn »weder koordinierte, noch gar erschöpfende Gegensätze« seien.

      Vielmehr trägt er seinerseits noch eine dritte Auffassung über die Beziehungen des Eigennutzes zum sozialen Zusammenleben vor, indem er81 bemerkt: »Er (der Eigennutz) wird zum irdisch verständigen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt«. Man fühlt sich dabei zunächst sofort auf den Boden der optimistischen »Eigennutz«-Theorien des 18. Jahrhunderts gestellt82.

      Wenn aber Mandevilles Bienenfabel in ihrer Weise das Problem des Verhältnisses zwischen Privat- und Gemein-Interessen in der Formel »private vices public benefits« zugleich stellte und beantwortete, und wenn auch manche der Späteren bewußt oder unbewußt der Ansicht zuneigten, der wirtschaftliche Eigennutz sei zufolge providentieller Fügung jene Kraft, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, so bestand dabei die Vorstellung, daß der Eigennutz direkt, und so wie er eben ist, ungebrochen, in den Dienst der je nach dem Sprachgebrauch »göttlichen« oder »natürlichen« Kulturziele der Menschheit gestellt sei.

      Roscher hingegen weist (Anm. 6 § 11 des Systems, Band I) auch jene Auffassung Mandevilles und der Aufklärungsperiode ausdrücklich ab, und zwar liegt der Grund hierfür teils auf religiösem Gebiet83, teils aber – und damit gelangen wir wieder zum letzten Grund all' dieser Widersprüche – in den erkenntnistheoretischen Konsequenzen seiner »organischen« Auffassung. Roscher hat zwar kein Bedenken getragen, für diejenigen Erscheinungen, welche, wie Grundrente, Zins, Lohn, sich als massenhaft wiederkehrende Einzelvorgänge und unmittelbare Relationen der Privatwirtschaften untereinander darstellen, die Ableitung aus dem Ineinandergreifen des vom Eigennutz gelenkten privatwirtschaftlichen Handelns zu verwenden; allein er lehnte es ab, sie auch auf diejenigen sozialen Institutionen anzuwenden, welche in dieser Betrachtung nicht erschöpfend aufgehen und uns als »organische« Gebilde – »Zwecksysteme«, mit Dilthey zu sprechen – entgegentreten. Und zwar entziehen sich dieser Betrachtungsweise nach seiner Meinung nicht nur die auf Gemeinsinn ruhenden Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens, wie Staat und Recht, sondern auch der Kosmos der rein wirtschaftlichen Beziehungen ist als Ganzes einer solchen, ja überhaupt einer rein kausalen Erklärung unzugänglich, und zwar, weil sich »Ursache und Wirkung nicht voneinander