Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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Methodologie gelegentlich bis in die Gegenwart hinein, und namentlich gilt dies für das Hineinspielen der »Frage« der Willensfreiheit in die methodologischen Erörterungen der Spezialwissenschaften. Noch immer wird dieses Problem, und zwar ganz in demselben Sinne wie von Knies, ohne alle Not von den Historikern in die Untersuchungen über die Tragweite »individueller« Faktoren für die Geschichte hineingetragen. Man findet dabei immer wieder die »Unberechenbarkeit« des persönlichen Handelns, welche Folge der »Freiheit« sei, als spezifische Dignität des Menschen und also der Geschichte angesprochen, entweder ganz direkt106 oder verhüllt, indem die »schöpferische« Bedeutung der handelnden Persönlichkeit in Gegensatz zu der »mechanischen« Kausalität des Naturgeschehens gestellt wird.

      Es erscheint angesichts dessen nicht ganz ungerechtfertigt, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen und diesem hundertmal »erledigten«, aber in stets neuer Form auftauchenden Problem etwas ins Gesicht zu leuchten. Nichts als »Selbstverständlichkeiten«, zum Teil trivialster Art, können dabei herausspringen, aber gerade diese sind, wie sich zeigen wird, immer wieder in Gefahr, verdunkelt zu werden oder geradezu in Vergessenheit zu geraten107. – Dabei akzeptieren wir vorläufig einmal ohne Diskussion den Standpunkt von Knies, wonach die Wissenschaften, in welchen menschliches »Handeln«, sei es allein, sei es vorzugsweise, den Stoff der Untersuchung bilde, innerlich zusammen gehören, und, da dies unstreitig in der Geschichte der Fall ist, so wird hier von »der Geschichte und den ihr verwandten Wissenschaften« gesprochen, wobei vorerst ganz dahingestellt bleibt, welche jene Wissenschaften sind. Wo von »Geschichte« allein die Rede ist, ist immer an den weitesten Sinn des Wortes (politische, Kultur- und Sozialgeschichte eingeschlossen) zu denken. – Unter jener noch immer so stark umstrittenen »Bedeutung der Persönlichkeit« für die Geschichte kann nun zweierlei verstanden werden. Einmal 1. das spezifische Interesse, welches die möglichst umfassende Kenntnis von dem »geistigen Gehalt« des Lebens geschichtlich »großer« und »einzigartiger« Individuen als eines »Eigenwerts« besitzt; oder 2. die Tragweite, welche dem konkret bedingten Handeln bestimmter Einzelpersonen – gleichviel, ob wir sie »an sich« als »bedeutende« oder »unbedeutende« Persönlichkeiten bewerten würden – als ursächlichem Moment in einem konkreten historischen Zusammenhang zuzuschätzen ist. Beides sind offenbar logisch ganz und gar heterogene gedankliche Beziehungen. Wer jenes Interesse (ad 1) prinzipiell leugnet, oder als »unberechtigt« verwirft, ist auf dem Boden der Erfahrungswissenschaft natürlich ebenso unwiderlegbar, wie derjenige, welcher umgekehrt die verstehende und »nacherlebende« Analyse »großer« Individuen in ihrer »Einzigartigkeit« für die einzige menschenwürdige Aufgabe und als einzig die Mühe verlohnendes Ergebnis der Erforschung der Kulturzusammenhänge ansieht. Gewiß lassen sich diese »Standpunkte« ihrerseits wieder zum Gegenstand der kritischen Analyse machen. Aber jedenfalls wird dann kein geschichtsmethodologisches und auch kein einfach erkenntniskritisches, sondern ein geschichtsphilosophisches Problem: die Frage nach dem »Sinn« des wissenschaftlichen Erkennens des Historischen, aufgerollt108. – Die kausale Bedeutung (ad 2) aber, sei es konkreter Einzelhandlungen, sei es jenes Komplexes »konstanter Motive«, welche wir im formalen Sinn »Persönlichkeit« nennen, generell zu bestreiten, ist nur dann möglich, wenn man a priori entschlossen ist, diejenigen Bestandteile eines historischen Zusammenhanges, welche dadurch ursächlich bedingt sind, als eben deshalb unseres kausalen Erklärungsbedürfnisses nicht würdig, außer Betracht zu lassen. Ohne diese, wiederum den Boden der Erfahrung verlassende und auf ihm nicht begründbare, weil ein Werturteil enthaltende, Voraussetzung hängt es natürlich lediglich vom Einzelfall, d.h. von der Frage, welche Bestandteile einer gegebenen historischen Wirklichkeit im Einzelfall kausal erklärt werden sollen und welches Quellenmaterial zur Verfügung steht, ab, ob wir 1. beim kausalen Regressus auf eine konkrete Handlung (oder Unterlassung) eines Einzelnen als eine in ihrer Eigenart bedeutsame Ursache stoßen – etwa auf das Edikt von Trianon –, und weiter 2., ob es alsdann genügt, zur kausalen Interpretation jener Handlung die Konstellation der »außerhalb des Handelnden« liegenden Antriebe zum Handeln als eine nach allgemeinen Erfahrungssätzen sein Verhalten zulänglich motivierende Ursache aufzuhellen oder ob wir daneben 3. seine »konstanten Motive« in ihrer Eigenart festzustellen, bei diesen aber haltzumachen genötigt und berechtigt sind, oder ob endlich 4. das Bedürfnis erwächst, auch noch diese letzteren charakterogenetisch, z.B. in ihrem Entstehen aus »ererbten Anlagen« und Einflüssen der Erziehung, konkreten Lebensschicksalen und der individuellen Eigenart des »Milieus«, nach Möglichkeit, kausal erklärt zu sehen. – Irgendein prinzipieller Unterschied zwischen Handlungen eines Einzelnen und Handlungen vieler Einzelner besteht nun hier natürlich, soweit die Irrationalitätsfrage in Betracht kommt, in keiner Weise: das alte lächerliche Vorurteil naturalistischer Dilettanten, als ob die »Massenerscheinungen«, wo sie als historische Ursachen oder Wirkungen in einem gegebenen Zusammenhang in Betracht kommen, »objektiv« weniger »individuell« seien als die Handlungen der »Helden«, wird sich hoffentlich auch in den Köpfen von »Soziologen« nicht mehr allzulange behaupten109. Auch bei Knies ist ja in dem erwähnten Zusammenhang von menschlichem Handeln überhaupt, nicht aber von dem der »großen Persönlichkeiten« die Rede, und so wird bei unseren weiteren Bemerkungen ein- für allemal – soweit nicht das Gegenteil sich aus dem Zusammenhang unzweifelhaft ergibt bzw. ausdrücklich gesagt ist, – nicht nur an ein Sich-Verhalten eines Einzelnen, sondern ganz ebenso an »Massenbewegungen« gedacht, wo von »menschlichem Handeln«, »Motivation«, »Entschluß« u. dgl. die Rede ist. –

      Wir beginnen mit einigen Bemerkungen über den Begriff des »Schöpferischen«, welchen namentlich Wundt in seine Methodologie der »Geisteswissenschaften« als grundlegend aufgenommen hat. In welchem Sinne immer man nun jenen Begriff mit Bezug auf »Persönlichkeiten« verwenden möge, so muß man sich jedenfalls sorgsam hüten, in ihm etwas anderes finden zu wollen als den Niederschlag einer Wertung, die wir an den ursächlichen Momenten einerseits, und dem ihnen zugerechneten Endeffekt andererseits, vornehmen. Insbesondere ist die Vorstellung gänzlich irrig, als hinge das, was unter jenem »schöpferischen« Charakter menschlichen Tuns etwa verstanden werden kann, mit »objektiven«, – d.h. hier: von unseren Wertungen abgesehen in der empirischen Wirklichkeit gegebenen oder aus ihr abzuleitenden, – Unterschieden in der Art und Weise der Kausalbeziehungen zusammen. Als ursächliches Moment greift die Eigenart und das konkrete Handeln einer konkreten »historischen« Persönlichkeit »objektiv«, – d.h. sobald wir von unserem spezifischen Interesse abstrahieren, – in keinem irgend verständlichen Sinn »schöpferischer« in das Geschehen ein, als dies bei »unpersönlichen« ursächlichen Momenten, geographischen oder sozialen Zuständlichkeiten oder individuellen Naturvorgängen, ebenfalls der Fall sein kann. Denn der Begriff des »Schöpferischen« ist, wenn er nicht einfach mit dem der »Neuheit« bei qualitativen Veränderungen überhaupt gleichgesetzt, also ganz farblos wird, kein reiner Erfahrungsbegriff, sondern hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit betrachten. Die physikalischen und chemischen Vorgänge z.B., welche zur Bildung eines Kohlenflözes oder Diamanten führen, sind »schöpferische Synthesen« in formal ganz demselben – nur durch die Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte inhaltlich verschieden bestimmten – Sinn wie etwa die Motivationsverkettungen, welche von den Intuitionen eines Propheten zur Bildung einer neuen Religion führen. Unter logischen Gesichtspunkten betrachtet, hat die qualitative Veränderungsreihe in beiden Fällen die gleiche Eigenart der Färbung lediglich dadurch angenommen, daß infolge der Wertbeziehungen eines ihrer Glieder die Kausalungleichung, in welcher sie – wie an sich jede lediglich auf ihre qualitative Seite hin betrachtete Veränderung in der individuell besonderten Wirklichkeit – verläuft, als eine Wertungleichung ins Bewußtsein tritt. Damit wird die Reflexion auf diese Beziehung zum entscheidenden Grund unseres historischen Interesses. Wie die Unanwendbarkeit des Satzes »causa aequat effectum« auf das menschliche Handeln nicht aus irgendwelcher »objektiven« Erhabenheit des Ablaufes der psychophysischen Vorgänge über die »Naturgesetzlichkeit« im allgemeinen oder über spezielle Axiome, wie etwa das von der »Erhaltung der Energie« oder dergleichen abzuleiten ist, sondern aus dem rein logischen Grund, daß eben die Gesichtspunkte, unter welchen das »Handeln« für uns Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wird, die Kausalgleichung als Ziel derselben