Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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jedenfalls erst da ein, wo »Erkenntniswert« und »praktischer Wert« konfundiert werden und die Kategorie der »Norm« fehlt, wo also behauptet wird: daß das Nützliche, weil nützlich, auch wahr sei, daß jene »praktische Bedeutung« oder jene »Auslösungs«- und Anpassungsvorgänge die Sätze der Mathematik – nicht etwa nur zu einer faktisch erkannten, sondern – zu einer normative Geltung besitzenden Wahrheit erst gemacht haben. Das wäre freilich »Unsinn«, – im übrigen finden alle jene Ueberlegungen ihre prinzipielle erkenntnistheoretische Schranke nur in dem ihrem Erkenntniszweck immanenten Sinn und die Schranken ihrer sachlichen Verwertbarkeit lediglich an der Grenze ihrer Fähigkeit, die empirisch gegebenen Tatsachen widerspruchslos derart zu »erklären«, daß die Erklärung sich »in aller Erfahrung bewährt«. Was nun aber bei idealster Lösung aller solcher Zukunftsaufgaben einer physiologischen, psychologischen, biogenetischen, soziologischen und historischen »Erklärung« des Phänomens des Denkens und bestimmter »Standpunkte« desselben natürlich gänzlich unberührt bleiben würde, das ist eben die Frage nach der Geltung der Ergebnisse unserer »Denkprozesse«, ihrem »Erkenntniswert«. Welche anatomische Vorgänge der Erkenntnis von der »Geltung« des kleinen Einmaleins korrespondieren, und wie diese anatomischen Kostellationen phylogenetisch sich entwickelt haben, dies könnten, käme es nur auf die logische Möglichkeit an, irgendwelche »exakten« Zukunftsforschungen zu ermitteln hoffen. Nur die Frage der »Richtigkeit« des Urteils: 2 x 2 = 4 ist dem Mikroskop ebenso wie jeder biologischen, psychologischen und historischen Betrachtung aus logischen Gründen für ewig entzogen. Denn die Behauptung, daß das Einmaleins »gelte«, ist für jede empirische psychologische Beobachtung und kausale Analyse einfach transzendent und als Objekt der Prüfung sinnlos, sie gehört zu den für sie gar nicht nachprüfbaren logischen Voraussetzungen ihrer eigenen psychometrischen Beobachtungen. Der Umstand, daß die Florentiner Bankiers des Mittelalters, infolge Unkenntnis des arabischen Zahlensystems, sich selbst bei ihren Erbteilungen ganz regelmäßig – wie wir vom »normativen« Standpunkt aus sagen – »verrechneten« und wirklich »richtige« Rechnungen bei größeren Posten in manchen Buchungen der damaligen Zeit beinahe die Ausnahme bilden, – dieser Umstand ist kausal genau so determiniert wie der andere: daß die »Richtigkeit« heute die Regel bildet, und wir solche Vorkommnisse bei heutigen Bankiers höchst übel zu »deuten« geneigt sein würden. Wir werden zur Erklärung jenes Zustandes in den Büchern etwa der Peruzzi alles mögliche, – nur das eine jedenfalls nicht geltend machen können, daß das kleine Einmaleins zu ihrer Zeit noch nicht »richtig« gewesen sei, ebensowenig wie seine »Richtigkeit« heute etwa erschüttert werden würde, falls eine Statistik über die Anzahl der Fälle, in denen im Laufe eines Jahres tatsächlich »unrichtig« gerechnet worden ist, ein »ungünstiges« Resultat ergeben sollte, – denn »ungünstig« wäre es eben nicht für die Beurteilung des Einmaleins auf seine Geltung hin, sondern für eine vom Standpunkt und unter Voraussetzung dieser Geltung aus vorgenommene Kritik unserer Fähigkeit im »normgemäßen« Kopfrechnen. – Würde nun – um bei dem Beispiel der intellektuellen Entwickelung zu bleiben – eine an Wundts Begriffen orientierte Betrachtungsweise auf alle diese etwas sehr simplen und natürlich von Wundt selbst am allerwenigsten bestrittenen, nur eben sachlich von ihm nicht festgehaltenen Bemerkungen antworten, daß das Prinzip der »schöpferischen Synthese« oder der »steigenden psychischen Energie« ja, unter anderm, gerade dies bedeute, daß wir im Laufe der »Kulturentwickelung« zunehmend »befähigt« werden, solche zeitlos gültigen »Normen« intellektuell zu erfassen und »anzuerkennen«, dann wäre damit lediglich konstatiert, daß diese angeblich empirisch-»psychologische« Betrachtung eben keine im Sinne der Abwesenheit von Wertungen »voraussetzungslose« empirische Analyse, sondern eine Beurteilung der »Kulturentwickelung« unter dem Gesichtspunkt eines bereits als geltend vorausgesetzten »Werts«: des Werts »richtiger« Erkenntnis, darstellt. Denn jenes angebliche »Gesetz« der »Entwickelung« würde dann nur da eben als vorhanden anerkannt, wo sich eine Veränderung in der Richtung auf die Anerkennung jener »Normen« hin bewegte113. Dieser Wert – an welchem der Sinn unseres gesamten wissenschaftlichen Erkennens verankert ist – versteht sich aber doch nicht etwa »empirisch« von selbst. Während, wenn wir z.B. den Zweck wissenschaftlicher Analyse der empirisch gegebenen Wirklichkeit als wertvoll – es sei aus welchen Motiven immer – anerkennen wollen, bei der wissenschaftlichen Arbeit selbst die »Normen« unseres Denkens sich ihre Beachtung (soweit sie uns bewußt bleiben und solange zugleich jener Zweck festgehalten wird) erzwingen, – ist der »Wert« jenes Zweckes selbst etwas aus der Wissenschaft als solcher ganz und gar nicht begründbares. Ihr Betrieb mag in den Dienst klinischer, technischer, ökonomischer, politischer oder anderer »praktischer« Interessen gestellt sein: dann setzt, für die Wertbeurteilung, ihr Wert denjenigen jener Interessen voraus, welchen sie dient, und dieser ist dann ein »a priori«. Gänzlich problematisch aber wird dann, rein empirisch betrachtet, der »Wert« der »reinen Wissenschaft«. Denn, empirisch-psychologisch betrachtet, ist der Wert der »um ihrer selbst willen« betriebenen Wissenschaft ja nicht nur praktisch, von gewissen religiösen Standpunkten und etwa demjenigen der »Staatsraison« aus, sondern auch prinzipiell unter Zugrundelegung radikaler Bejahung rein »vitalistischer« Werte oder umgekehrt radikaler Lebensverneinung tatsächlich bestritten worden, und ein logischer Widersinn liegt in dieser Bestreitung ganz und gar nicht oder nur dann, wenn etwa verkannt würde, daß damit eben lediglich andere Werte als dem Wert der wissenschaftlichen Wahrheit übergeordnet angesprochen werden. –

      Es würde nun zu weit führen, nach diesen umständlichen Darlegungen von »Selbstverständlichkeiten« hier auch noch zu erörtern, daß für andere Werte genau das gleiche gilt, wie für den Wert des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Es gibt schlechterdings keine Brücke, welche von der wirklich nur »empirischen« Analyse der gegebenen Wirklichkeit mit den Mitteln kausaler Erklärung zur Feststellung oder Bestreitung der »Gültigkeit« irgendeines Werturteils führt, und die Wundtschen Begriffe der »schöpferischen Synthese«, des »Gesetzes« der stetigen »Steigerung der psychischen Energie« usw. enthalten Werturteile vom reinsten Wasser. Verdeutlichen wir uns nur kurz noch die Denkmotive, welche zu diesen Aufstellungen geführt haben. Sie sind ganz offenbar darin zu finden, daß wir eben die Entwickelung derjenigen Völker, die wir »Kulturvölker« nennen, als Wertsteigerung beurteilen, und daß dies Werturteil, welches den Ablauf qualitativer Veränderungen, den wir an ihnen feststellen, als eine Kette von Wertungleichungen aufgefaßt werden läßt, eben dadurch unser »historisches Interesse« in spezifischer Art auf sie hinlenkt, – bestimmter ausgedrückt: dafür konstitutiv wird, daß diese Entwickelungen für uns »Geschichte« werden. Und jene durch unsere Wertbeurteilung hergestellten Wertungleichungen, die Erscheinungen des historischen Wert- und Bedeutungswandels, der Umstand, daß jene Bestandteile des zeitlichen Ablaufes des Geschehens, welche wir als »Kulturentwickelung« bewerten und so aus der Sinnlosigkeit der endlosen Flucht unendlicher Mannigfaltigkeiten herausheben, eben für unser Werturteil in gewissen wichtigen Hinsichten, – so namentlich am Maßstabe des Umfanges der »Erkenntnis« gemessen – »Fortschritte« zeigen: – dies alles erzeugt nun den metaphysischen Glauben, als ob, auch bei Abstraktion von unserer wertenden Stellungnahme, aus dem Reiche der zeitlosen Werte in das Reich des historischen Geschehens durch Vermittelung, sei es der genialen »Persönlichkeit«, sei es der »sozialpsychischen Entwickelung«, ein Jungbrunnen hinübersprudle, welcher den »Fortschritt« der Menschheitskultur in die zeitlich unbegrenzte Zukunft hinein »objektiv« stets von neuem erzeuge.

      Diesem »Fortschritts«-Glauben stellt sich Wundts »Psychologie« als Apologet zur Verfügung. Und den gleichen, – vom Standpunkt einer empirischen Psychologie aus gesprochen: – metaphysischen Glauben teilte offenbar auch Knies. Und sicherlich hatte er sich dieses Glaubens zu schämen keinen Anlaß, nachdem ihm ein Größerer eine in ihrer Art klassische Form gegeben hatte. Kants »Kausalität durch Freiheit« ist, zusammen mit den mannigfachen Verzweigungen, welche in der weiteren Entwickelung des philosophischen Denkens aus diesem Begriff hervorgewachsen waren, der philosophische Archetypos aller metaphysischen »Kultur«- und »Persönlichkeits«-Theorien dieser Art. Denn jenes Hineinragen des intelligiblen Charakters in die empirische Kausalverkettung vermittelst der ethisch normgemäßen Handlungen läßt sich ja mit