Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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Moment die Pfade kreuzt. Diese »unsere« Beziehung »psychischer« Hergänge auf Werte, – gleichviel, ob sie als undifferenziertes »Wertgefühl« oder als rationales »Werturteil« auftritt, – vollzieht eben die »schöpferische Synthese«. Bei Wundt ist erstaunlicherweise die Sache gerade umgekehrt gedacht: das in der Eigenart der psychischen Kausalität »objektiv« begründete Prinzip der »schöpferischen Synthese« findet nach ihm seinen »charakteristischen Ausdruck« in Wertbestimmungen und Werturteilen. Würde damit nur gemeint sein, daß es ein berechtigtes Ziel psychologischer Forschung sei, z.B. die psychischen oder psychophysischen »Bedingungen« des Entstehens von Wertgefühlen und -Urteilen aufzusuchen und den Versuch zu machen, psychische oder psychophysische »Elementar« vorgänge als kausale Komponenten derselben zu erweisen, so wäre dagegen nichts zu erinnern. Man braucht aber nur wenige Seiten weiter zu lesen, um sich zu überzeugen, welches in Wahrheit die Konsequenzen von Wundts angeblich »psychologischer« Betrachtungsweise sein sollen: »Im Laufe jeder individuellen wie generellen Entwickelung« – also natürlich doch in derjenigen des geborenen Trunkenbolds oder Lustmörders ebenso wie in derjenigen des religiösen Genius – werden, nach Wundt, geistige (d.h. nach Wundts Interpretation logische, ethische, ästhetische) Werte erzeugt, »die ursprünglich in der ihnen zukommenden spezifischen Qualität überhaupt nicht vorhanden waren«, weil – nach Wundt – innerhalb der Lebenserscheinungen zu dem Prinzip der Erhaltung der physischen Energie das Gesetz des »Wachstums der psychischen Energie« (d.h. der aktuellen und potentiellen Werte) tritt. Diese generelle »Tendenz« zur Bildung »wachsender Wertgrößen« kann durch »Störungen« zwar »teilweise oder ganz vereitelt« werden, aber selbst »eine der wichtigsten dieser Unterbrechungen psychischer Entwickelung: das Aufhören der individuellen geistigen Wirksamkeit« – gemeint ist offenbar diejenige Erscheinung, die man gewöhnlich einfacher als »Tod« bezeichnet – »pflegt«, wie nach Wundt »immerhin zu beachten« ist, »durch das Wachstum der geistigen Energie innerhalb der Gemeinschaft, welcher der Einzelne angehört, ... mehr als kompensiert« zu werden. Das Entsprechende gelte im Verhältnis der einzelnen Nation zur menschlichen Gemeinschaft. Eine empirisch sein wollende Disziplin müßte dies nun aber auch in einer wenn auch noch so entfernten Annäherung an »Exaktheit« nachzuweisen imstande sein. Und da doch offenbar nicht nur der Professor, sondern auch der Staatsmann und überhaupt jeder Einzelne eine »psychische Entwickelung« erlebt, so entsteht die Frage: für wen denn nun dieses tröstliche Verhältnis des »Kompensiertwerdens« gelten soll?, – d.h. ob der Tod Cäsars oder irgendeines braven Straßenfegers als »psychologisch« kompensiert zu gelten hat: – 1. dem Verstorbenen oder Sterbenden selbst, oder 2. seiner hinterbliebenen Familie, oder 3. demjenigen, für welchen sein Tod eine »Stelle« oder eine Gelegenheit zum »Wirken« frei machte, oder 4. der Steuerkasse, 5. der Aushebungsbehörde, oder 6. bestimmten politischen Parteirichtungen usw., oder etwa 7. Gottes providentieller Weltleitung, – oder endlich: dem psychologistischen Metaphysiker. Nur diese letztere Annahme erscheint zulässig. Denn wie man sieht, handelt es sich hier nicht um Psychologie, sondern um eine im Gewande »objektiver« psychologischer Betrachtung auftretende geschichtsphilosophische Konstruktion des a priori postulierten »Fortschritts« der Menschheit. Weiterhin wird denn auch aus der »schöpferischen Synthese« das »Gesetz der historischen Resultanten« abgeleitet, welches mit dem Gesetz der historischen »Relationen« und demjenigen der historischen »Kontraste« die psychologistische Dreieinigkeit der historischen Kategorien bildet. Und sie muß weiterhin auch dazu dienen, Entstehung und »Wesen« der »Gesellschaft« und der Totalitäten überhaupt in einer vermeintlich »psychologisch« begründeten Weise zu interpretieren. Und endlich soll sie verständlich machen, warum wir Kulturerscheinungen (angeblich) ausschließlich in Form des kausalen Regressus (von der Wirkung zur Ursache) zu erklären imstande sind, – als ob nicht genau das gleiche bei jedem mit den Mitteln der Physik zu interpretierenden konkreten »Naturvorgang« der Fall wird, sobald es auf die individuellen Komplikationen und die Einzelheiten seiner Konsequenzen für die konkrete Wirklichkeit aus irgendwelchen Gründen einmal ankommt. Doch davon später. Hier sollten zunächst nur die elementarsten Charakterzüge der Theorie konstatiert werden. – Die außerordentliche, dankbare Hochachtung, welche der umfassenden Gedankenarbeit dieses hervorragenden Gelehrten geschuldet wird, darf nicht hindern, für diese speziellen Probleme zu konstatieren, daß eine solche Art von angeblicher »Psychologie« für die wissenschaftliche Unbefangenheit des Historikers geradezu Gift ist, weil sie ihn dazu verleitet, die geschichtsphilosophisch gewonnenen Werte, auf welche er die Geschichte bezieht, sich selbst durch Verwendung angeblicher psychologischer Kategorien zu verhüllen und so sich und andern einen falschen Schein von Exaktheit vorzutäuschen, – wofür Lamprechts Arbeiten ein abschreckendes Beispiel geliefert haben.

      Verfolgen wir, der außerordentlichen Bedeutung wegen, welche Wundts Ansichten auf dem Gebiet psychologischen Arbeitens zukommt, das Verhältnis von kausal erklärender Psychologie zu den »Normen« und »Werten« noch etwas weiter. Es sei vor allem betont, daß die Ablehnung jener angeblichen psychologischen »Gesetze« Wundts und die Hervorhebung des Werturteils-Charakters gewisser angeblich »psychologischer« Begriffe nicht etwa dem Streben nach Beeinträchtigung der Bedeutung und des Arbeitsgebietes der Psychologie und der ihr aggregierten »psychophysischen« Disziplinen, oder gar dem Wunsch, »Lücken« in der Geltung des Kausalprinzips für die empirischen Wissenschaften aufzuweisen, entspringt. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Psychologie wird als empirische Disziplin erst durch Ausschaltung von Werturteilen – wie sie in Wundts »Gesetzen« stecken – möglich. Die Psychologie mag hoffen, irgendwann einmal jene Kostellationen psychischer »Elemente« festzustellen, welche kausal eindeutige Bedingungen dafür sind, daß bei uns das »Gefühl« entsteht, ein »objektiv« gültiges »Urteil« bestimmten Inhalts zu »fällen« oder »gefällt« zu haben. Die Hirnanatomie irgendeiner Zukunft mag die für diesen Tatbestand unentbehrlichen und ihn eindeutig bedingenden physischen Vorgänge ermitteln wollen. Ob dies sachlich möglich ist, fragen wir hier nicht, jedenfalls enthält die Annahme einer solchen Aufgabe keine logisch widersinnige Voraussetzung und, was die sachliche Seite anlangt, so zeigt z.B. der Begriff der »potentiellen Energie«, auf dessen Einführung das Energiegesetz ruht, ganz ebenso »unbegreifliche« (hier: unanschauliche) Bestandteile wie irgendwelche noch so verwickelten hirnanatomischen Voraussetzungen der Psychophysik zum Zweck der Erklärung des »explosions« artigen Verlaufs gewisser »Auslösungs«-vorgänge. Die Voraussetzung der Möglichkeit solcher Feststellungen ist, als ideales Ziel der psychophysischen Forschung gedacht, trotz der höchsten Wahrscheinlichkeit seiner Unerreichbarkeit, jedenfalls als Problemstellung positiv sinnvoll und fruchtbar. Es mag ferner – um noch eine andere Seite heranzuziehen – die Biologie die »psychische« Entfaltung unserer logischen Kategorien, die bewußte Verwendung des Kausalprinzips z.B., etwa als Produkt der »Anpassung« »verstehen«: man hat bekanntlich die »Schranken« unserer Erkenntnis prinzipiell daraus abzuleiten versucht, daß »das Bewußtsein« eben nur als Mittel der Erhaltung der Gattung entstanden sei und daher – weil die Erkenntnis »nur« um des Erkennens selbst willen ja Produkt des »Spieltriebs« sei – seine Sphäre nicht über das durch jene Funktion bedingte Maß ausdehnbar sei. Und man mag diese freilich dem Wesen nach »teleologische« Interpretation weiterhin durch eine mehr kausale zu ersetzen suchen, indem etwa die allmähliche Entstehung des Wissens von der Bedeutung jener Kategorie als Ergebnis ungezählter spezifischer »Reaktionen« auf gewisse, irgendwie näher zu bestimmende »Reize« im Laufe einer langen phylogenetischen Entwicklung – für die ja die nötigen Jahrmillionen gratis zur Verfügung stehen – interpretiert wird. Man mag ferner über die Verwendung so summarischer und stumpfer Kategorien, wie »Anpassung«, »Auslösung« u. dgl. in ihrer generellen Fassung hinausgehen und die speziellen »Auslösungsvorgänge«, welche die moderne Wissenschaft entbunden haben, auch streng historisch in gewissen – im weitesten Sinne des Wortes – »praktischen« Problemen zu finden suchen, vor welche konkrete Konstellationen der gesellschaftlichen Verhältnisse das Denken stellten, und weiterhin aufzeigen, wie die Verwendung bestimmter Formen des »Auffassens« der Wirklichkeit, zugleich praktische Optimalitäten der Befriedigung gewisser jeweils ausschlaggebender Interessen bestimmter sozialer Schichten darstellten, – und man mag so in einem freilich stark veränderten Sinne mit dem Satz des historischen »Materialismus«, daß der ideelle »Ueberbau« Funktion des gesellschaftlichen Gesamtzustandes