Max Weber

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre


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und daß alle einzelnen Erscheinungen, »im Verhältnis von wechselseitiger Bedingtheit zueinander« stehen. Jede kausale Erklärung dreht sich (nach Roscher) daher in einem Kreise herum84, aus dem ein Ausweg nur zu finden ist, wenn man ein organisches Leben des Gesamtkosmos annimmt, dessen Aeußerungen die Einzelvorgänge sind. Unsere Analyse steht wieder vor jenem, uns schon früher begegneten, »unerklärbaren Hintergrund« der Einzelerscheinungen, und ihre wissenschaftliche Aufgabe kann, wie wir sahen, nur darin bestehen, jenen Hintergrund immer weiter »zurückzuschieben«.

      Man sieht auch hier: es ist nicht, oder doch nicht unmittelbar, der »hiatus irrationalis« zwischen der stets nur konkret und individuell gegebenen Wirklichkeit und den durch Abstraktion vom Individuellen entstehenden allgemeinen Begriffen und Gesetzen, was Roscher jene prinzipielle Schranke des volkswirtschaftlichen Erkennens aufstellen läßt. Denn daran, daß die konkrete Realität des Wirtschaftslebens begrifflicher Erfassung in Form von Gesetzen prinzipiell zugänglich sei, zweifelt er nicht im mindesten. Freilich seien »unzählige« Naturgesetze – aber doch eben Gesetze – zu ihrer Erschöpfung erforderlich. Nicht die Irrationalität der Wirklichkeit, welche sich gegen die Einordnung unter »Gesetze« sträubt, sondern die »organische« Einheitlichkeit der geschichtlich-sozialen Zusammenhänge erscheint ihm als das Objekt, dessen kausale Erklärung und Analyse er nicht nur für schwieriger hält, als diejenige natürlicher Organismen85, sondern welches prinzipiell unerklärt bleiben muß. Nicht, daß die Einzelerscheinungen nicht in die allgemeinen Begriffe eingehen, und zwar notwendig um so weniger, je allgemeiner die Begriffe sind, sondern daß die universellen Zusammenhänge und die zuständlichen Gebilde zufolge ihrer Dignität als »Organismen« nicht von den Einzelerscheinungen aus kausal erklärbar seien, stellt für ihn die Grenze des rationalen Erkennens dar. Daß aber eine kausale Erklärung der Totalitäten von den Einzelerscheinungen aus (nicht nur faktisch, sondern) prinzipiell unmöglich sei, ist ihm ein Dogma, welches zu erweisen er gar nicht unternimmt. Zwar stehen ihm jene zuständlichen Gebilde und Zusammenhänge deshalb keineswegs außerhalb jener kausalen Bedingtheit. Aber sie fügen sich einem (metaphysischen)86 Kausalzusammenhang höherer Ordnung, den unser Erkennen nur in seinen Aeußerungen gelegentlich greifen, nicht aber in seinem Wesen durchschauen kann – wiederum (nach Roschers Ansicht) nach Analogie des natürlichen Lebensprozesses. Roscher glaubt (§ 13) zwar nicht, daß die Volkswirtschaft in gleichem Maße wie ein natürlicher Organismus »natürlich gebunden« sei, allein er findet die (metaphysische) Gesetzlichkeit auch jener »höheren« Erscheinungen des Wirtschaftslebens sich äußernd in dem sogenannten »Gesetz der großen Zahl« in der Statistik, welches erkennen lasse, wie die scheinbare Willkür der konkreten Einzelfälle sich, sobald man auf das Ganze des Zusammenhangs sehe, in »wunderbaren Harmonien« ausgleiche87.

      Nicht eine methodisch-logische Grenze der Erfassung der Wirklichkeit in Gattungsbegriffen und abstrakten Gesetzen, sondern das Hereinragen der für unser Erkennen transzendenten Mächte in die Wirklichkeit findet also Roscher in dem Gegensatz des sozialen Kosmos gegenüber den theoretisch analysierbaren Einzelvorgängen. Wir stehen hier wieder, wie schon oben, an der Grenze des Emanatismus. Sein Wirklichkeitssinn lehnt es ab, den Gedanken, daß die »organischen« Bestandteile jenes Kosmos Emanationen von »Ideen« seien, für eine Erklärung auszugeben. Den Gedanken selbst aber weist er nicht zurück. –

      Roschers Kreislauftheorie einerseits, die von ihm verwendete Kategorie des »Gemeinsinns« andererseits erklärt endlich auch seinen prinzipiellen Standpunkt88 zur Frage der wissenschaftlichen Behandlung der Wirtschaftspolitik89. Zunächst muß die Folge des untrennbaren Zusammenhangs der Wirtschaft mit dem gesamten Kulturleben die Heteronomie des wirtschaftspolitischen Zweckstrebens sein. Die »Förderung des Nationalreichtums« – diesen Begriff zu verwerfen hat sich Roscher nicht entschlossen – kann nicht der selbstverständliche und einzige Zweck der Wirtschaftspolitik, die Staatswirtschaft keine bloße »Chrematistik sein«90. Die Erkenntnis des historischen Wandels der Wirtschaftserscheinungen schließt ferner aus, daß die Wissenschaft andere als relative Normen aufstellt –, je nach der Entwickelungsstufe des betreffenden Volkes91. Allein hiermit hat der Relativismus Roschers seine Grenzen erreicht: Er geht nirgends so weit, den Werturteilen, welche die Grundlage der wirtschaftspolitischen Maximen sind, nur subjektive Bedeutung zuzugestehen92 und damit die wissenschaftlich eindeutige Auffindung von Normen überhaupt abzuweisen. Wenn Roscher seinen methodischen Standpunkt dahin zusammenfaßt, daß er auf die Ausarbeitung allgemeiner Ideale grundsätzlich verzichte (§ 26), und »nicht wie ein Wegweiser, sondern wie eine Landkarte« orientieren wolle, so heißt das nicht, daß er demjenigen, welcher auf der Suche nach »Richtung weisenden Idealen« sich an die Wissenschaft wendet, antwortet: »Werde, der du bist«. Er ist vielmehr, wenigstens theoretisch, von dem Vorhandensein objektiver Grundlagen für die Aufstellung von Normen nicht nur für jede konkrete Situation, sondern darüber hinaus auch je für die einzelnen, typischen Entickelungsstufen der Volkswirtschaft überzeugt93. Die Wirtschaftspolitik ist eine Therapeutik des Wirtschaftslebens94, – und eine solche ist natürlich nur möglich, wenn ein je nach dem Entwickelungsgrade individuell verschiedener, immer aber als solcher objektiv erkennbarer Normalzustand der Gesundheit feststellbar ist, dessen Herstellung und Sicherung gegen Störungen dann das selbstverständliche Ziel des Wirtschaftspolitikers ganz ebenso bilden muß, wie das Entsprechende für die Tätigkeit des Arztes am physischen Organismus der Fall ist.

      Ob nun eine solche Annahme vom Standpunkte einer rein diesseitig orientierten Lebensauffassung aus überhaupt ohne Selbsttäuschung möglich wäre, bleibt hier vorerst dahingestellt: für Roscher war sie prinzipiell gegeben durch seine geschichtsphilosophische Auffassung des typischen Ganges der Völkerschicksale in Verbindung mit seinem religiösen Glauben, welcher für ihn die sonst unvermeidlichen fatalistischen Konsequenzen seiner Theorie ausschloß. Zwar wissen wir nach Roscher weder, in welchem Stadium der, von ihm als ein im Sinn des Christentums endlicher Prozeß gedachten, Gesamtmenschheitsentwicklung, noch in welchem Stadium der Entwickelung unserer, ja auch zum Absterben bestimmten, nationalen Kultur wir uns befinden. Aber daß wir es nicht wissen, gereicht nach Roscher uns – in diesem Fall: der Tätigkeit des Politikers – ebenso zum Vorteil, wie die Verborgenheit der Todesstunde dem physischen Menschen, und hindert ihn nicht zu glauben, daß das Gewissen und der gesunde Menschenverstand dem Kollektivindividuum die ihm jeweils von Gott gestellten Aufgaben ebenso enthüllen könne wie dem Einzelnen. Immerhin versteht sich, daß bei einem derartigen Gesamtstandpunkt für die wirtschaftspolitische Arbeit es naturgemäß nur enge Grenzen gibt: Regelmäßig dringen nach Roscher – kraft des naturgesetzlichen Charakters der wirtschaftlichen Entwickelung – die »wirklichen Bedürfnisse eines Volkes« auch im Leben von selbst durch95 –, die gegenteilige Annahme widerstreitet dem Glauben an die göttliche Vorsehung. Ein, wenn auch relativistisches, so doch in irgendeinem Sinn geschlossenes System wirtschaftspolitischer Postulate ist, da die Endlichkeit unseres diskursiven Erkennens uns die Erfassung der Gesamtheit der »Entwickelungsgesetze« versagt, etwas vielleicht schon prinzipiell Unmögliches, sicherlich aber tatsächlich ebensowenig erschöpfend zu entwickeln, wie auf dem Gebiet der politischen Arbeit, was Roscher gelegentlich (§ 25) auch ausdrücklich ausspricht. So sind denn die zahlreichen wirtschaftspolitischen Aeußerungen Roschers zwar der Ausdruck seiner milden, maßvollen, vermittelnden Persönlichkeit, in keiner Weise aber der Ausdruck klarer, konsequent durchgeführter Ideale. Wirklich ernste und dauernde Konflikte zwischen dem Schicksalszuge der Geschichte und den Lebensaufgaben, welche Gott dem Einzelnen wie den Völkern stellt, sind eben unmöglich, und die Aufgabe, sich seine letzten Ideale autonom zu stecken, tritt an den Einzelnen gar nicht heran. Roscher konnte daher auf seinem relativistischen Standpunkt verharren, ohne ethischer Evolutionist zu werden. Er hat den Evolutionismus in seiner naturalistischen Form auch ausdrücklich abgelehnt96, – daß der historische Entwicklungsgedanke eine ganz ähnliche Entleerung des normativen Charakters der sittlichen Gebote enthalten könne, mußte ihm verborgen bleiben, da er dagegen gesichert war.

      Fassen wir zusammen, so sehen wir, daß Roschers »historische Methode« ein, rein logisch betrachtet, durchaus widerspruchsvolles Gebilde darstellt. Versuche, die gesamte Realität