Oliver Rausch

Gestalten mit Licht und Schatten


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      Die Mitte des Bildes assoziieren wir gerne mit Statik oder Ruhe bzw. mit einer eher nüchternen Feststellung von Tatsachen oder einfach mit dem Hier und Jetzt, also der realen Gegenwart. Fotos mit einem mittigen Akzent werden oftmals wie »Feststellungen« gelesen. »Das ist der Eiffelturm«, »das ist mein Auto«, »das ist meine Familie beim Camping« etc. sind oft gehörte Sätze beim Betrachten von Bildern mit mittig platzierten Akzenten. Auch Licht aus der Nähe der optischen Achse, also von der Mitte aus, kann diese »PassfotoWirkung« entfalten, wie das rechte Beispiel in Abbildung 1–8 zeigt. Gerne nutzte etwa die Modefotografie der 90er-Jahre Licht aus der optischen Achse, um den oftmals wenig lebensnahen Inszenierungen mit Topmodels einen realistischen »Live-Look« mitzugeben.

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      Abbildung 1–9

      Licht aus unterschiedlichen Richtungen eingesetzt, erzeugt Bilder mit verschiedenen Grundstimmungen. Die jeweilige Wirkung kann dann weiter gestützt werden durch eine entsprechende Platzierung von bildwichtigen Akzenten in derselben Bildrichtung.

      Wird ein Bildakzent an einer bestimmten Stelle im Bild platziert, stellt sich fast immer die Bildaussage oder Bildwirkung gemäß oben stehender »Landkarte der Akzentwirkungen« ein. Licht, das aus der entsprechenden Richtung auf das Motiv fällt, löst beim Betrachter eine ähnliche Wirkung aus. Weitere Gestaltungselemente wie Linienführung, Flächenaufteilung oder auch verwendete Farben entfalten jedes für sich ebenfalls bestimmte Bildwirkungen. Verwenden Sie die einzelnen Gestaltungselemente in entsprechender Weise, also so, dass sie eine ähnliche Wirkung entfalten, können diese sich gegenseitig verstärken und so dem Bild die gewünschte Aussage mitgeben.

       Die Lichtrichtung bestimmt die Grundaussage oder Grundstimmung, die das Bild erhält, und kann durch die klassische Bildgestaltung unterstützt werden.

      Der Einfluss der klassischen Bildgestaltung auf die Bildwirkung wird in diesem Buch dennoch eine eher untergeordnete Rolle spielen. Im Vordergrund soll vor allem die Lichtgestaltung mit ihrer Wirkung stehen.

       Exkurs

      In etlichen impressionistischen Gemälden von Claude Monet und Édouard Manet wird die Schwere der Feldarbeit von Bauern dadurch ausgedrückt, dass die Personen sehr weit unten im Bild dargestellt sind. Auch Vincent van Gogh oder Jean-François Millet haben dieses Thema in sehr ähnlicher Weise dargestellt.

      Meist wird die Aussage durch einen dunklen braunen Acker als Hintergrund unterstützt, der häufig auch noch im Halbschatten liegt. Zudem wird der Horizont oberhalb der Köpfe platziert, wodurch die Bauern »heruntergedrückt« erscheinen. Als Kontrast dazu dient ein oft strahlender Himmel im oberen Bilddrittel. Das von weit oben ins Bild kommende Licht soll die Heilsversprechung des Göttlichen darstellen. Die Bauern sind zusätzlich oft betend dargestellt. So wird das göttliche Licht als Kontrast zur dunklen Farbpalette, der Position der gedrückten Hauptakzente, und zur demütigen Haltung der Abgebildeten genutzt, um die Schwere der Feldarbeit darzustellen.

      Fast alle Gesichter sind asymmetrisch. Die eine Gesichtshälfte ist oft größer als die andere, eine Seite oft rundlicher, während die andere ein wenig eckiger erscheint. Meist sind die Augen nicht auf exakt derselben Höhe im Schädel angeordnet. Somit ist der Ausdruck eines Gesichts in seiner einen Hälfte immer ein wenig anders als in der anderen, manchmal zeigt sich der Unterschied sogar recht deutlich. Demnach sollte auch eher jene Seite beleuchtet werden, die Sie für eine Aufnahme bevorzugen.

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      Die beiden Gesichtshälften zeigen meist einen leicht unterschiedlichen Ausdruck.

      Das rechte Bild in Abbildung 1–10 ist gespiegelt, das linke nicht. Einmal befindet sich die Schokoladenseite im Licht, das andere Mal nicht. Bei diesem Modell sind bei entspannter Mimik bereits Unterschiede im Gesichtsausdruck der linken und rechten Gesichtsseite erkennbar. Die Formen der Ohren, der Augenbrauen und der Wangenknochen sind erkennbar unterschiedlich. Die Gesichtskontur im linken Bild fällt vom Haaransatz am Ohr entlang senkrecht ab bis zum Kieferknochen, während sie im rechten Bild am Ohr entlang nach unten leicht abknickt und anschließend nach innen weist. Auf der einen Seite ist am Mundwinkel ein kleines Grübchen erkennbar, auf der anderen Seite ist ein solches weit weniger ausgeprägt. Vor allem ist der eine Mundwinkel des Modells immer etwas höher gezogen als der andere, wodurch die eine Gesichtshälfte einen etwas freundlicheren Ausdruck hat. Unterstützt wird dies dadurch, dass auf der »lächelnden« Seite das Auge ein wenig größer ist. Welche der beiden Seiten für ein Foto eher im Licht liegen sollte oder der Kamera zugewandt wird, hängt von der gewünschten Wirkung ab. Es muss durchaus nicht immer die »schöne« oder »freundliche« Seite sein. Für eine dramatischere oder auch markantere Wirkung würde ich mich für die linke Aufnahme entscheiden. Die Schokoladenseite ist also jeweils die, mit der man der gewünschten Bildaussage am nächsten kommt.

      Die Richtungsangaben in diesem Buch (sofern nichts anderes gesagt wird) beziehen sich auf das Koordinatensystem, das seinen Ursprung im Kopf des Modells hat. Die Zeigerichtung der Nase bestimmt die Richtungsangabe für »vorne«. Die Richtungsangaben sind daher weitestgehend unabhängig vom Kamerastandpunkt. Dieser bestimmt nur, welche Seite lang und welche kurz erscheint.

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      Die Richtungsangaben in diesem Buch orientieren sich an der Nase des Modells, nicht an der Kamera.

      › Vorne ist immer da, wo die Nase des Modells hinweist.

      › Hinten ist die Richtung, in die der Hinterkopf weist.

      › Oben ist die Richtung, in die das Schädeldach des Modells zeigt.

      › Unten ist dort, wo sich der Hals befindet.

      › Die lange und die kurze Seite ergeben sich aus dem Kamerastandpunkt.

      Die Richtungsangabe »oben« in diesem Buch weist für ein Kopfstand machendes Modell demnach von der Kamera aus betrachtet in Richtung Fuß-boden, da dies die Richtung ist, in die das Schädeldach des Modells zeigt. Wenn Sie ein liegendes Modell vor sich haben, dessen Nase gen Himmel zeigt, ist der Himmel vom Modell aus betrachtet »vorne«. Vorne ist immer dort, wo die Nase des Modells hinweist, zumindest für dieses Buch. Da alle Richtungsangaben in dieser Lichttheorie ihren Ursprung in der Nase des Modells haben, hat sich bei uns in der Akademie der Name »Nasentheorie« für die Theorie der Lichtführung eingebürgert.

      Stellen Sie sich vor, Sie stecken Ihrem Modell einen Ring durch die Nase, wie er zum Führen von jungen Bullen und Ochsen verwendet wird. An diesem Nasenring können Sie nun einen roten Nylonfaden straff zur Kamera spannen … oder Sie stellen es sich zumindest vor. Der Faden sollte stets straff gespannt sein und nicht durchhängen. Stellen Sie sich weiter vor, dass Sie den roten Nylonfaden zwischen Kamera und Nase des Modells so straff spannen, dass Sie mit einem Finger daran zupfen können und ein Ton wie von einer Gitarrensaite erklingt, und zwar egal, wo Sie gerade mit Ihrer Kamera stehen oder in welche Richtung das Modell schaut. Ich nenne diese Verbindungslinie zwischen Nase des Modells und Kamera die »Ochsenschnur«. Dieses gedachte Hilfsmittel wird Ihnen beim Ausleuchten gute Dienste leisten und ich werde mich in den weiteren Kapiteln