Oliver Rausch

Gestalten mit Licht und Schatten


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Sie die Lichtquelle so weit nach vorne, bis nicht nur die Augenlider, sondern auch das Auge und vor allem die Iris Licht erhalten.

      Schritt 4 hätte bei diesem Modell entfallen können, da das Auge bereits nach Schritt 3 Licht erhält. Dennoch gewinnt es in diesem Fall durch die minimal veränderte Lampenposition (nur einige Zentimeter weiter vorne) noch etwas mehr Leuchtkraft.

      Probieren Sie die einzelnen Schritte bei unterschiedlichen Modellen aus und Sie werden feststellen, dass Sie je nach Anatomie die Lampe mal mehr und mal weniger bewegen müssen, um die beschriebenen Effekte zu erzielen. Die Lampe steht in ihrer Endposition im einen Fall deutlich steiler und im anderen deutlich flacher. Je nachdem, wie tief die Augen im Schädel liegen, steht die Lichtquelle auch mal weiter vorne oder hinten, um über den Nasenrücken hinweg noch Licht in das Auge der Schattenseite fallen zu lassen. Ich verzichte in den »Anleitungssätzen« daher ganz bewusst auf irgendwelche Winkelangaben. Die Sätze sind so formuliert, dass sie nicht nur mit Porträts funktionieren, sondern später auch auf andere Motive angewandt werden können, was bei starren Winkelangaben nicht möglich wäre. (Die Richtungsangaben beziehen sich dabei immer auf das Koordinatensystem, das durch das Modell selbst gegeben ist. Siehe auch Abbildung 1–11.)

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      Abbildung 2–1

      Seitenlicht – erster Schritt

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      Abbildung 2–2

      Seitenlicht – zweiter Schritt

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      Abbildung 2–3

      Seitenlicht – dritter Schritt

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      Abbildung 1–4

      Seitenlicht – optionaler vierter Schritt

      Akzentsetzung

      Das Auge der Schattenseite erhält einen deutlichen Akzent und leuchtet in der dunklen Umgebung magisch auf. Der Blick des Betrachters wird so von diesem Auge angezogen und festgehalten.

      Linienführung

      Die senkrechte Schattenlinie auf der Stirn wirkt wie ein »Hinweispfad«, auf dem das Auge des Betrachters zum Auge der Schattenseite des Modells hingeführt wird – mit der Folge einer weiteren Betonung. Die Schattenlinie beschreibt im weiteren Verlauf von oben nach unten eine mehrfach geschwungene S-Kurve, beginnend bei der Stirn über die Nase und die Lippen bis hinunter zum Kinn und die Halspartie, wodurch die Gesichtsformen deutlich modelliert werden. Diese S-Kurven sind zum Beispiel auf den Lippen und am Kinn wichtig, um diesen Körperteilen im flachen Bild Dreidimensionalität zu verleihen.

      Flächenaufteilung

      Die Schattenlinie teilt die Stirn in etwa ein Drittel zu zwei Dritteln, was eine spannende und zugleich harmonische Teilung ergibt. Die dunkle Gesichtshälfte – gestalterisch eine große, langweilige, dunkle Fläche ohne besondere Struktur – wird durch das Auge »durchbrochen«, was ihr Spannung und Lebendigkeit verleiht.

      Bilder, die mit Seitenlicht ausgeleuchtet werden, wirken aufgrund der großen Flächen, die im Schatten liegen, sehr düster, melancholisch, gedrückt, depressiv. Sie können aber auch Gefahr oder das Unheimliche zum Ausdruck bringen, da in den dunklen Schatten eher Bedrohliches als Erfreuliches vermutet wird. Ist das Motiv im ansonsten dunklen Bildraum eher klein dargestellt, kann Seitenlicht das Verlorene, Einsame und Verlassene unterstreichen.

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      Abbildung 2–5

      Seitenlicht aus unterschiedlichen Kamerastandpunkten gesehen

      Die oben genannten Schritte zur Platzierung der Lampe sagen zunächst nichts über die Kameraposition aus. Sie können sich mit Ihrer Kamera nach erfolgter Ausleuchtung 180° frei um Ihr Modell herumbewegen. Sie sollten lediglich darauf achten, dass Sie mit Ihrer Kamera auf der Schattenseite des Modells bleiben. Das Licht steht dann auf der abgewandten, der kurzen Seite des Modells.

      In diesem Abschnitt werde ich auf einige klassische »Fehler« eingehen, die Ihnen immer wieder begegnen können. Dabei weise ich darauf hin, dass all diese »Fehler«, wenn sie bewusst eingesetzt werden, sehr wohl spannende Bilder erzeugen können. Es sind »Fehler« in dem Sinne, dass man sie in aller Regel nicht machen sollte, wenn man ein natürlich wirkendes, das Tageslicht in harmonischer Weise nachahmendes Bild erhalten möchte. Es sind insofern Fehler, als sie sich oft unbeabsichtigt einschleichen und dann zu Irritationen im Bild führen können. Oft stehen sie der beabsichtigten Wirkung oder Aussage dann entgegen.

      Seitenlicht auf der langen Seite

      Positionieren Sie sich mit Ihrer Kamera auf der hellen Seite des Modells, fällt das Seitenlicht also auf die lange Seite, wirkt das Bild meist spannungslos und wenig plastisch. Die Wange erscheint als große, für das Auge des Betrachters langweilige Fläche. Der uralte Merksatz »Große langweilige Flächen, die solltest du durchbrechen« ist nicht mehr realisiert. Das zweite Auge ist kein magisch leuchtender Akzent mehr. Auf das der Kamera zugewandte Auge verweist nun auch keine Schattenlinie auf der Stirn, die das Auge des Betrachters dorthin leiten könnte. Dafür ist nun das Ohr des Modells prominent im Bild vertreten und der Blick des Betrachters wird durch den Haaransatz dorthin geführt. Das Modell vermittelt bei dieser Ausleuchtung zudem einen »einäugigen« Eindruck.

      In der Praxis wird Seitenlicht dennoch oft auf der langen Seite eingesetzt – vermutlich weil so der Bildkontrast deutlich geringer erscheint und damit die Belichtung einfacher zu kontrollieren ist. Das bedeutet aber oft, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Denn was bringt Ihnen ein gut belichtetes Bild mit vielen Grauabstufungen, wenn das Modell flächig erscheint und keine Spannung im Bild herrscht, der Blick des Betrachters sogar von den Augen des Modells weg und zu den Ohren gelenkt wird?

      Ich plädiere eher für die Lösung, das Licht auf der kurzen Seite zu setzen, um die oben beschriebenen gestalterischen Vorteile voll zu nutzen, die technischen Nachteile durch gezieltes Aufhellen der Kontraste in den Griff zu bekommen und bei dieser Arbeit die Histogramme immer im Blick zu behalten.

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      Abbildung 2–6

      Seitenlicht auf der langen Seite

       Exkurs

      Es gibt ein Porträt von Irving Penn, das Pablo Picasso zeigt. Geben Sie bitte in der Bildersuche bei Google die Begriffe »Picasso« und »Penn« ein oder verwenden Sie den nebenstehenden QR-Code. In diesem Bild steht das Seitenlicht auf der langen Seite. Die der Kamera zugewandte Wange wird aber mit einem Mantelkragen durchbrochen und teilweise verdeckt, wodurch sie kein gestalterisches Problem als große leere Fläche mehr darstellt. Das Ohr wird ebenfalls teilweise verdeckt, wodurch der Betrachter nicht mehr so stark darauf gelenkt wird. Dadurch, dass die kurze Seite nahezu schwarz erscheint und das zweite Auge im tiefen Schatten nur noch zu ahnen ist, entsteht ein eindringliches Porträt von Picasso. Er scheint ganz Auge zu sein, das zudem den Mittelpunkt des Bildes