Und wir haben auch nicht mitgemacht. Es war der Tag, an dem meine Kindheit endete.
Jahrzehnte später notierte ich dazu in einem meiner vielen Tagebücher:
19. Juni 1989
Ich war mit meinen Eltern in der Stumpergasse, es war 1938 – die Machtübernahme. Auf der Mariahilfer Straße die Massen – und dann haben uns der Gemüsehändler und der Tischler im Haus tyrannisiert. Sie zwangen uns, mit »Heil Hitler« zu grüßen, und wir haben uns gefürchtet! Ganz schrecklich gefürchtet.
Es war mir damals vollkommen klar, dass dieses Regime nicht akzeptabel war, und bei jeder Gelegenheit versuchte ich, Reglementierungen zu untergraben. Selbst wenn es nur kleine Gesten waren: Für mich waren sie von großer Bedeutung. Ich bekam beispielsweise immer wieder einen schrecklichen Hustenanfall, wenn ich im Stiegenhaus oder auf der Straße einem Nachbarn oder Passanten »Heil Hitler!« entgegenrufen musste. So brauchte ich meinen Arm nicht zu heben. Eine winzige Geste, doch für mich eine Art der Verweigerung. Das war natürlich brandgefährlich, denn jederzeit konnte man dafür angezeigt und verhaftet werden. Aber irgendwie musste ich diesem Wahnsinn etwas entgegensetzen, viel konnte ich ja als Kind nicht tun.
Ich besuchte das Gymnasium in der Rahlgasse. Als gute Sportlerin, die ich immer war, wurde ich für das Amt der BDMFührerin in Betracht gezogen. Die Burschen kamen damals in die Hitlerjugend und wir Mädchen zum »Bund Deutscher Mädchen«. Um dafür ausgewählt zu werden, musste man eine Prüfung ablegen. Nächtelang überlegte ich, wie ich das System austricksen könnte. Plump die Prüfung einfach zu schmeißen, das ging nicht. Und so konzentrierte ich mich darauf, bei den Wettbewerben nicht als Erste ans Ziel kommen, sondern als Dritte oder Vierte. Zu schlecht durfte ich nicht abschneiden, das hätten sie mir nicht abgenommen. Zu gut aber auch nicht, sonst hätten sie mich verpflichtet.
Damit wir – es waren mehrere aus meiner Klasse ausgewählt worden – zu dieser BDM-Prüfung antreten konnten, mussten wir Kurse besuchen, in denen wir Führungsdisziplin, Gehorsam und was nicht noch alles lernen mussten. Ich kann mich noch an das Haus am Judenplatz erinnern, in dem diese Kurse im ersten Stock stattfanden. Wir »Auserwählten« saßen in riesigen Räumen im Kreis, vorne stand immer die Kursleiterin – und alle waren sie blond und blauäugig. Allein diese Tatsache hat mich fertiggemacht. Sie haben alle gleich ausgesehen – auswechselbar sozusagen.
Ich schaffte den Rausschmiss mit einem Pokerface, wie man so schön sagt. Seit damals weiß ich, was ein Pokerface ist. Ich musste diese Rolle durchgehend spielen, sozusagen in der Rolle bleiben. So gesehen war es wahrscheinlich meine erste Rolle, die ich jemals gespielt habe.
Die Ereignisse von 1938 haben mich nachhaltig traumatisiert. Meine Erlebnisse, die ich als damals Zehnjährige hatte, lassen mich bis heute nicht los. Ich bin über den Judenplatz marschiert, und aus den Kellern hörte ich die grauenvollen Schreie von Menschen, die dort gefangen gehalten wurden. Sie waren zusammengepfercht und mussten auf ihren Abtransport in die Lager warten – wie ich später erfuhr. Irritiert von den Hilfeschreien, kniete ich mich vor die Kellerfenster, rief hinein, fragte, wie ich helfen könnte – es kamen aber keine Antworten. Höchstens unartikulierte Schreie. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, dass niemand eingriff – die Leute gingen achtlos vorbei. Die Menschen in den Kellern waren so verzweifelt und schon so hoffnungslos, sie haben nicht mehr damit gerechnet, dass ihnen irgendwer zu Hilfe kommen würde, und schon gar nicht eine Zehnjährige.
Auch aus dem Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz hörten wir Tag und Nacht Schreie von gefolterten und misshandelten Menschen. Mich verfolgen diese Schreie bis heute. Ich kann nicht verstehen, wieso heute wieder so viele Neonazis herumlaufen. Nicht nach all dem, was geschehen ist. Es ist so furchtbar entmutigend, vor allem wenn ich mir die Zukunft vorstelle. Hat denn niemand aus der Vergangenheit gelernt? Bald sind alle Zeitzeugen weg, und dann gibt es nur mehr Erinnerungen aus zweiter Hand.
Jahrzehnte später, im Februar 2000, als die ÖVP die Koalition mit der FPÖ einging, empfand ich das als politische Katastrophe. Ich musste zwei Interviews geben und notierte in mein Tagebuch:
14. April 2000
Gestern, am 13. April, zwei Interviews im Herrenhof. Ich sprach von der Vertreibung meiner Freundin Agi Boroš und der Arisierung der Wohnungen. Von dem Schock und über die Enttäuschung der obersten Führer dieses Landes; von ihrer Unanständigkeit. Über Karrieren – und davon, dass sie sich nicht halten, wenn sie kein Fundament haben. Heute um 8 Uhr in den Nachrichten hörte ich die Meldung, dass die Rückzahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus 21 Milliarden Schilling kosten werden.
Mein Vater Wilhelm Zeller (1882–1954) war schon 50, als ich auf die Welt kam; er war ein alter, aber sehr liebevoller Vater. Er starb mit 72 Jahren. Meine Mutter Anna (1893–1970) hat ihn noch um 16 Jahre überlebt. Meine Kindheit war sehr behütet. Ich erinnere mich nicht an viele Dinge vor 1938, wahrscheinlich, weil meine Welt eben in Ordnung war.
Ich bin das jüngste Kind, das Nesthäkchen. Ich wurde auch lange Zeit nur Zwetschgerl genannt. Erst als ich ein junges Mädchen war, wurde aus Zwetschgerl Wetschi, und meine Freunde von damals nennen mich heute noch so. Ich war – und das bin ich bis heute – irrsinnig neugierig. Immer wollte ich alles wissen, alles erklärt haben. Diese Neugier wird wohl nie aufhören.
Meine Halbschwester Mimi mit ihrem Ehemann, meine Mutter, meine Schwester Friederike und mein Vater.
Mein Vater, ein Geschäftsmann, von dem ich nie wusste, welche Geschäfte er genau betrieben hat, war, wie man es damals bezeichnet hat, ein »Entrepreneur«. Er hatte großartige Ideen, war aber seiner Zeit immer voraus. Einmal war er in der Filmbranche tätig, dann hatte er eine Bar mit Vitamindrinks, die »Bibi-Bar« in der Rotenturmstraße – und so gab es bei uns immer wieder finanzielle Engpässe. Als Mann war er ein Charmeur der alten Schule. Er hat die Frauen geliebt, und ich meine wirklich geliebt. Sie waren für ihn einfach verehrungswürdige Geschöpfe. An ihm und seiner hinreißenden Art Frauen gegenüber habe ich sicherlich jeden Mann in meinem Leben gemessen. Ich habe ein paar Mal in meinem Leben solche Männer getroffen, die voller Ehrfurcht und Liebe Frauen gegenüber waren – allerdings konnten sie auch nie Nein sagen.
Mein Vater war drei Mal verheiratet, seine ersten zwei Ehefrauen starben beide jung. Ich weiß nicht genau woran, ich weiß nur, dass die zweite im Kindbett bei der Geburt meines Halbbruders Fritz starb. Das ist auch der Grund, warum zwischen meiner ältesten Halbschwester Wilhelmine, genannt Mimi, und mir 30 Jahre Altersunterschied liegen.
Mimis Mutter war Jüdin, was meiner Schwester natürlich später sehr gefährlich wurde. Es war ein Wunder, dass sie die schrecklichen Jahre in Wien überlebt hat. Irgendwie ist es meiner Familie gelungen, sie mit vereinten Kräften zu schützen. Sie überstand die gesamte Nazizeit sozusagen als »U-Boot«. Viel weiß ich nicht darüber, weil ich noch sehr jung war. Ich weiß nur, dass sie in der Operngasse gewohnt hat und irgendetwas mit einem Verlag zu tun hatte. Offenbar hatte sie, neben der Familie, auch noch ein anderes Netzwerk an Freunden, das sie geschützt hat.
Meine beiden Halbbrüder Wilhelm und Friedrich, die aus der zweiten Ehe meines Vaters stammten, waren durch den großen Altersunterschied zu mir eher wie liebevolle Onkel für mich. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebten sie in Hietzing, im sogenannten »Schönbrunner Stöckl« direkt am Hietzinger Platz, und wurden von ihrer Tante, der Schwester ihrer verstorbenen Mutter, aufgezogen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass sie täglich ihre Ponys im Schönbrunner Park spazieren führten – das hat mich als Kind natürlich sehr fasziniert.
Fritz, mein Halbbruder.
Obwohl wir Geschwister nicht zusammenlebten, war der Kontakt speziell zu den Brüdern sehr eng. Ich fuhr ständig mit der Straßenbahn zu ihnen, und wir verbrachten viel Zeit gemeinsam im Hietzinger Bad. Es waren Wilhelm und Fritz, die mir später Mut machten, meinen Weg zu gehen und Schauspielerin zu werden. Sie setzen sich sehr für mich ein, als meine Eltern ihre Zweifel hatten, ob das wohl die richtige Berufswahl für mich wäre.
Aus der dritten Ehe meines