Bibiana Zeller

Bitte lasst mich mitspielen!


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Mutter war eine stille und sehr liebevolle Frau, die oft sehr traurig war. Sie weinte viel. Ich weiß noch, dass ich oft einfach bei ihr gesessen bin und sie nur gestreichelt habe. Ich hatte immer Angst um sie, sie wirkte so verletzlich und zart, dann aber auch wieder sehr distanziert, so als ob sie in ihrer eigenen Welt lebte. Viele Jahrzehnte später erinnerte ich mich an ihre Aufenthalte in Steinhof. Ich drehte dort gerade den Film »Ene mene muh – und tot bist du« (2000) von Houchang Allahyari, und plötzlich fielen mir die Besuche bei meiner Mutter im Spital wieder ein. Mir war als Kind nicht wirklich klar, warum sie dort war, heute weiß ich, dass sie wegen Depressionen in Behandlung war.

      Sie hat sicher auch darunter gelitten, dass mein Vater andere Frauen so verehrt hat. Einmal stand die Ehe meiner Eltern sehr an der Kippe. Es gab damals eine Frau im Leben meines Vaters, die immer wieder bei Einladungen in unserer Wohnung auftauchte. Mir fiel sie auf, denn sie hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. Irgendetwas an ihr war einfach anders. Abgesehen davon wechselten die Gäste oft, nur sie kam immer wieder. Obwohl ich nichts Genaues wusste, hatte ich so meine Vermutungen. Ich war gerade im Maturajahr, also beileibe kein Kind mehr, und mein Vater bat mich, mit ihm in den Volksgarten zu gehen, er müsse mit mir etwas sehr Ernstes besprechen. Mir wurde ganz schlecht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was das sein sollte. Wir setzten uns auf eine Bank, und er fragte mich, ob ich es ihm sehr übelnehmen würde, wenn er meine Mutter verließe.

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      Anna Wohlgemuth, meine Mutter.

      In meinem jugendlichen, unreflektierten Ungestüm war meine Antwort klar: »Das wäre sehr gemein, das darfst du nicht machen.« Ich wusste, meine Mutter hätte diese Trennung nicht überlebt.

      Nie wieder wurde über dieses Thema gesprochen. Heute tut mir das leid. Wer weiß, vielleicht habe ich meinem Vater ein großes Glück zerstört.

      Ich bedauere, dass ich nie Großeltern hatte. Die Eltern meiner Eltern waren alle schon tot, als ich auf die Welt kam. Daher ist mir vieles in meiner Familie unklar – ich hatte niemanden, den ich fragen konnte, und mit den Eltern hat man andere Dinge besprochen als beispielsweise die Vorfahren. Ich hätte einfach gerne mehr über unsere Familie gewusst. Ich sehe es ja bei meinen Enkelkindern: Man erzählt ihnen ganz andere Dinge als beispielsweise den eigenen Kindern, man hat zu Enkeln einfach einen anderen Zugang. Ich glaube, dass man als Kind mit Großeltern ganz anders spricht als mit Eltern, und das hätte ich mir gewünscht.

      Kurz nach Kriegsende war mein Vater viel auf Reisen. Er arbeitete damals für eine Firma, die Filmrollen herstellte, und musste regelmäßig nach München fahren. Immer, wenn ich nachgefragt habe, meinte meine Mutter nur: »Du weißt ja, er muss arbeiten …« Mein Vater war oft wochenlang fort, und wenn ich ihn fragen wollte, was er denn genau gemacht hätte, zog er einfach – anstatt zu antworten – ein neues Kleid oder etwas anderes Schönes aus seinem Koffer und sagte: »Schau, was ich dir mitgebracht habe. Die Reise hat sich doch ausgezahlt, oder?« Damit war das Thema erledigt. Ich hätte nie gewagt, näher nachzufragen.

      Ein Erlebnis mit meinem Vater hat mir die Augen geöffnet. Ich war etwa 17 oder 18 Jahre alt und mit meiner ersten großen Lebensliebe, dem späteren Dirigenten Michael Hutterstraßer, liiert. Seine Eltern führten die Firma Bösendorfer in Wien und hatten Anteile am Hotel »Österreichischer Hof« in Salzburg. Wir sind dauernd zwischen Wien und Salzburg hin und her gefahren, saßen oft an der Salzach, ließen die Füße ins Wasser hängen und haben viel geredet. Michaels Großvater war der legendäre Opernsänger Richard Mayr (1887–1935), der 1911 erstmals in der Wiener Staatsoper den »Ochs von Lerchenau« in Richard Strauss’ Oper »Der Rosenkavalier« gesungen hat. 1924 spielte er diese Rolle in London in Covent Garden und begründete damit seine internationale Karriere. Michael sah in ihm ein großes Vorbild, und manchmal fuhr er einfach aus einer Laune heraus nach Salzburg, nur um sich das Bild seines Großvaters, das überlebensgroß im »Österreichischen Hof« hing, anzusehen.

      An einem dieser Ausflugstage begegneten wir völlig unerwartet meinem Vater. Er war nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, heimlich mit einer Geliebten unterwegs, nein, er war inmitten eines ganzen Freundeskreises, mit dem er sich angeregt unterhielt. Als er mich sah, erschrak er nicht etwa oder war bestürzt – im Gegenteil, er forderte mich und Michael auf, uns einfach dazuzusetzen, teilzuhaben und mitzudiskutieren. Mein Vater führte sozusagen ein Parallelleben.

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      Michael Hutterstraßer, meine erste große Lebensliebe.

      Sein zweites Leben war ausgelassen, lustig und sehr geistreich. Ganz anders als sein Wiener Leben. Meine Mutter war immer sehr traurig, hat wenig gesprochen und sich auch nur für wenige Dinge interessiert. Also nahm sich mein Vater Auszeiten, sozusagen als Ausgleich. Wenn er dann zurückkam, war er ausgeglichen, liebenswürdig, fröhlich – und auch meine Mutter blühte dann wieder etwas auf.

      Ich weiß nicht, wie viel und was sie genau über diese »Ausflüge« meines Vaters wusste. Meine Eltern haben wahrscheinlich auch unseretwegen den Schein aufrechterhalten. Meine Schwester und ich sollten nichts merken. Das war damals so – über Persönliches wurde nicht gesprochen.

      Wir lebten zuerst in Mauer, dann, als ich in die Schule kam, in der Stumpergasse im 6. Bezirk, später im 1. Bezirk, in der Gölsdorfgasse 2, Ecke Rudolfsplatz. Dort wurden wir ausgebombt und siedelten in die Rotenturmstraße 19. Verschafft wurde uns diese Wohnung von einem Freund meines Vaters. Sie war sehr klein und wir lebten recht eng aufeinander. Da war auch kein Platz für eine Bibliothek. Es hat sich – außer mir – auch niemand dafür interessiert. Weder Literatur noch Kunst spielten in meinem Elternhaus eine besondere Rolle.

      Einer meiner stärksten Kindheitseindrücke ist ein kleiner Frosch, den sich meine Schwester in einem winzigen Terrarium hielt. Alles drehte sich um diesen Frosch und was er gerade machte oder nicht machte. Ich weiß nicht, warum ich mir gerade diese Belanglosigkeit gemerkt habe. Das Gedächtnis ist schon etwas Merkwürdiges.

      Jahrzehnte später, als ich in Reichenau Sommertheater spielte, fiel mir wieder ein, dass wir einmal im Sommer in Payerbach gewohnt haben. Ich muss noch sehr klein gewesen sein, wahrscheinlich war ich gerade in der ersten Klasse Volksschule. Wir, das waren meine Schwester Friederike, genannt Dita, meine Mutter und mein Vater:

      8. Juli 1990

      Schöne Parkanlagen – wunderbare Bäume. Sicher haben wir auch deshalb in Payerbach gewohnt. Ich erinnere mich an meinen Tretroller, an den Pavillon, der noch immer im Park dort steht. Ich erinnere mich an die zu hohe Türschnalle am Bahnhof, wenn ich Papa zum Zug brachte. An einen großen Streit meiner Eltern – wo Papa mich gern zu sich genommen hätte, ich aber zu Mutti floh, in ihren Schoß. An Dita, meine Schwester. Die gemütlichen Nachmittagsschläfchen mit Papa, wo wir einen Doppeladler bildeten beim Schlafen. Wir lagen Rücken an Rücken.

      Ich erinnere mich an das Kochenspielen, wo ich Kirschenkompott und Apfelkompott erzeugte, das weiß ich noch genau. Es taucht alles unglaublich klar auf. Dita hatte einen ganz geraden Haarschnitt. Wir trugen Dirndlkleider einfachster Art und Jackerln.

      Ich hatte immer kurzes Haar, mit einer Welle. (Ich habe die Haare meiner Mutter geerbt.) Ich vermute, Papa hatte seine Abenteuer in Wien und kam nur am Wochenende. Wir waren sehr arm, glaub ich. Ich habe den Verdacht, dass das Geld von einer der Geliebten meines Vaters kam, die damit meine Mutti, meine Schwester und mich ernährte. Denn damals war große Arbeitslosigkeit. Ungefähr 1931–1932, 1933, 1935 fuhren wir dann in die Großstadt. Über die Mariahilfer Straße. Das erste Mal Schilder lesen; versuchen, zu lesen. Ganz arm in der Webgasse Untermiete – noch ärmer in der Stumpergasse 8. (Diesen Wohnungsalbtraum habe ich bis heute noch.) Unvorstellbar klar ist der Alltag mir noch von dort. Ich glaube der einzige Gedanke meines Vaters war: Wie ernähre ich meine dritte Frau mit dem vierten und fünften Kind – also meine Schwester Dita und mir.

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      Mit Mimi und Friederike.

      Ich besuchte die Volksschule in der Mittelgasse 24 im 6. Bezirk. Fast alle