Geschichte deutscher Graekophilie von Johann Jakob Winckelmann bis zu Stefan George. Sie wurde geschrieben, als aller Welt sichtbar wurde, was der angeblich philhellenische Tyrann an der Spitze des deutschen Reiches plante. Zuerst mit der Übernahme der antiken Olympiade, dann auch mit pseudohellenistischer Propaganda auf allen Gebieten, einschließlich der Kriegskunst, die schließlich auf das Land der Träume selber angewandt wurde. Viel zu viele humanistisch gebildete Deutsche beteiligten sich damals, und auf die meisten traf der Begriff der »Zuarbeiter« zu, den Ian Kershaw für die maßlose Interaktion zwischen Führer und Geführten im sogenannten Dritten Reich geprägt hat. Den langen Familienroman dieser Zuarbeit noch vor ihren mörderischen Exzessen erkannt und dargestellt zu haben, war das Verdienst von Eliza, gen. »Elsie« Butler, auch wenn sie weder Gräzistin noch Archäologin war, sondern Germanistin, die sich mit Heinrich Heine, Fürst Pückler-Muskau, Rilke und immer wieder mit Goethe befasste: vor allem mit Goethes Faust.
Bis heute ist aber unklar, wie sie zu ihrem Griechenbuch überhaupt kam. In den englischen Archiven gibt es dazu nahezu keine Unterlagen, weshalb die Forschung nach Butlers Tod weitgehend erlosch. Übrig blieb nur das mehr oder minder einhellige Lob für ihr Projekt und die zahlreichen Anregungen, die es gab und bis heute gibt. Immerhin wurde das Buch 1958 als Paperback erneut ediert, und Butler schrieb ein Nachkriegsvorwort dazu. Zwar seien die deutschen Klassiker, meinte sie nun, mit all ihrem Humanismus niemals imstande gewesen, Katastrophen wie den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln oder gar nur zu unterstützen; aber eine Neigung zu exzessiv träumerischem Denken, ohne Rücksicht auf die mitlebende Realität, sei ihnen doch allen gemeinsam.
»The Tyranny of Greece over Germany« wurde in Deutschland trotz einer gekürzten Übersetzung von 1949 niemals bekannt; vielleicht war das ein Fehler. Denn der deutschsprachige Griechenkult endete mit der Ausrufung zweier deutscher Staaten keineswegs und entwickelte sich nach der Wiedervereinigung erst recht. Angefangen von neuen Grabungserfolgen im alten Troja/Hissarlik, die eine viel größere Stadt gewesen sein soll als je vermutet, über die poetischen Großforschungen des Österreichers Raoul Schrott, der die berühmte Homerfrage wieder aufwarf und geistreich beantwortete, bis hin zum legendären Kulturwissenschaftler und Heideggerianer Friedrich Kittler, der um die zweite Jahrtausendwende ein überspanntes Werk von sechs Bänden zur Antike ankündigte, im Zeichen von Musik, Mathematik und Eros. Band eins war »Hellas I: Aphrodite« gewidmet, also eben jener Göttin, deren Eitelkeit das sagenhafte Paar Helena und Paris überhaupt zustande gebracht hat. Kittler starb 2011. Die dramatische Staats- und Finanzkrise des zeitgenössischen Landes hat er nicht mehr erlebt. Größte Hellasverehrung stand nun wie schon 1832 neben Hass auf die Realität. Deutschland, das für seine Kriegsgräuel 1941 bis 1945 nie wirklich einstand, wurde zum härtesten Gläubiger, Griechenland selber in Grund und Boden kritisiert. Ob zu Recht oder zu Unrecht ist hier nicht die Frage. Im Raum steht vielmehr die längst verbreitete Sorge der Betrachter, dass gerade die Feinheiten deutschen Kulturdenkens keinerlei Wirkung auf die politische Klasse haben, ja diese womöglich nur mit prätentiöser Selbstsicherheit versorgen. So betrachtet das vorliegende Buch das Mahnmal der Elsie Butler mit dem Wissen der Nachgeborenen. Es folgt dabei ihrer Deutung von Faust und Helena als einer düsteren Allegorie auf das Verhältnis von Deutschen und Griechen. »Die Geschichte des Zauberers Faustus aus dem Norden, der Helenas Schatten aus der Unterwelt beschwört, könnte man als Symbol der Beziehungen zwischen dem antiken Griechenland und dem modernen Europa verstehen … Unsere Architektur, unsere Poesie, unsere Art zu denken, ja auch unsere Sprache legen beredtes Zeugnis ab von der Tatsache, dass der Westen, verzaubert auf die gespenstische Erscheinung von Hellas starrend, eben das empfand, was Marlowes Faustus rufen ließ: ›Nie will ich eine andere lieben‹, was man in Prosa übersetzen und falsch zitieren könnte: ›nie will ich einer anderen Norm gehorchen‹.«
So Butler 1938, zwei Jahre, nachdem sie mit ihrem Buch viel Ärger erregt und deutsche Kritik auf sich gezogen hatte. Die Kritik war verständlich, denn hinter ihrem Projekt erschien ja eine deutsche Ideengeschichte, die nachgerade sklavisch, wenn nicht vampirisch von hellenischer Kunst, Literatur, Philosophie und Technik leben wollte. Wenig überraschend umfasst diese Geschichte im Kern etwa Goethes Leben und Nachleben bis zu seinem 200. Geburtstag 1949. Kultur hat eben, anders als Oswald Spengler meinte, keine einförmig biologische Uhr. Und Goethe hieß der Abgott von Oswald Spengler, dem deutschen Kulturphilosophen der Weimarer Republik. Keinen Autor hat Spengler in seinem epochalen Werk über den »Untergang des Abendlandes« so oft und so zentral zitiert. Aber eine Helena kommt hier nicht vor – es sei denn, man betrachtet Spenglers Abendland als einen anderen Ausdruck für die griechische Antike unter dem Namen Hellas. Nicht Trojas, wohl aber Hellas’/Helenas Untergang begleitet den Aufstieg von Faust, den Spengler unter dem Begriff des »Faustischen« zum Markenzeichen einer germanischen Moderne erhob oder was er dafür hielt. Welche Ideengeschichte Elsie Butler vorfand, als sie 1924 in die Londoner Germanistik eintrat, kann man also mit Fug einem »Männlichen Blick« zuschreiben. Dass sie selber um 1930 den Mut zu einem anderen, eher »Weiblichen Blick« fand, lag nicht nur an der politischen Entwicklung, sondern schon an der Frauenbewegung, zu der sie gehörte und die etwa seit 1880 in das englische Spiel um Hellas ganz neue Schwerpunkte einführen sollte.
Berlin, September 2017
ERSTER TEIL
Der männliche Blick
Von Goethe bis zu Sigmund Freud
Angelika Kauffmann, Goethe 1787 in Rom
Der Dichter hatte nichts dagegen, »daß die Idee, als hätte ich so ausgesehen, in der Welt bleibt«.
ERSTES KAPITEL
1749 bis 1832
Der Komet aus der Antike: Johann Joachim Winckelmann. Liebe in Deutschland, Ärger in Preußen, europäischer Kult. Englands Bildungs-Reiselust. Hellas’ ruiniertes Erbe, beschrieben, gezeichnet und entführt. Byron und Goethe, Faust und Helena, ein Vermächtnis.
Die Szene ist wahrhaft gut bekannt. Ostern 1754 kaufte Elisabeth Goethe auf der jährlichen Frühjahrsmesse in Frankfurt am Main Töpfe und Geschirr für den wachsenden Haushalt; sie war wieder schwanger und brauchte Nachschub. Zuhause erwartete sie Wolfgang, damals etwa viereinhalb Jahre alt. Alsbald nutzte er einen günstigen Moment, um die Brüder Ochsenstein, seine besten Freunde, zu vergnügen. Erst warf er sein eigenes Puppengeschirr aus dem Vorgarten, und dann auf die brüderlichen Rufe nach Mehr den irdenen Vorrat der Mutter. Es krachte ordentlich, aber folgenlos; er wurde nicht bestraft, alle mussten nur lachen. Mehr als 150 Jahre später deutete Sigmund Freud diese Szene aus »Dichtung und Wahrheit« genussvoll. Er sah darin das Muster der Geschwisterrivalität, fand sogar ähnliche Beispiele bei seinen Patienten und bezog Goethes Reaktion auf die kommende Schwester Katharina Elisabeth, die aber nur wenig länger als ein Jahr leben sollte. Das Thema der Geburt und des frühen Todes, überhaupt die Figur des Kindes hat Goethe bekanntlich nie mehr losgelassen; so wenig wie die Hoffnung auf einen Bruder. Von den sieben Kindern der Mutter Goethe überlebte außer Wolfgang nur die begabte Cornelia, eine Art Bruderersatz; aber auch diese Schwester, selbst melancholisch vor Bruderliebe, starb schon mit 26 bei Geburt ihres zweiten Kindes. Ob Goethe später auf der Suche nach Verwandtschaft, und sei es nur einer platonischen, sehnsuchtsvoll in andere Länder geblickt hat? Ob er womöglich den legendären Dichter Lord Byron aus so einer frühkindlichen Prägung heraus geliebt hat, halb wie einen Bruder, halb wie einen Sohn? Byron wurde um 1800 der berühmteste englische Freund der Griechen, trat aber erst spät in Goethes längst philhellenischen Horizont. Und der wiederum wurde maßgeblich für die deutsche Intelligentsia. Seit und mit Goethe war Griechenland in fast allen deutschen Bildungshäusern das meistgeliebte, und mit des Dichters Hilfe geradezu familiär verehrte alte Volk, von dem man abzustammen wünschte, eben Hellas. »Das Land der Griechen mit der Seele suchend«, wie einst Iphigenie am Strand der heutigen Krim, wurde zur historischen Formel der Philhellenen, wenn auch nicht nur in Deutschland. Seit dem Humanismus, seit Beginn