Claudia Schmölders

Faust & Helena


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britische Dichter lieferte damals ein Paradestück zur sogenannten schwarzen Romantik. Die Mischung aus Okkultismus, moralischer Selbstqual und individueller Hybris inspirierte selbst Goethe, den Feind aller romantischen Poesie. Und doch dauerte es noch zehn Jahre, bevor er ein Bruchstück seiner Fortsetzung des Dramas zu Faust II unter dem Titel »Helena. Klassisch-romantische Phantasmagorie« (1827) als »Zwischenspiel zu Faust« öffentlich machte. Auch hier gab es nun die Frau als hinreißendes Phantom, als griechische Erscheinung, ja sogar als Erscheinung Griechenlands in begehrenswerter klassischer Gestalt; nicht als teuflisches Blendwerk wie im altdeutschen Puppenspiel. Diese Helena würde schließlich die Figur eines gemarterten Gretchens und aller umgebenden Schuld vergessen lassen; und doch gehörten sie beide zusammen wie die Gesichter einer Herme. Oder womöglich nicht? Wer sich in der griechischen Mythologie auskannte wie der Dichter und viele seiner Leser auch, wusste natürlich zugleich, dass man mit dieser Figur eine sagenhaft schillernde Überlieferung bekam, ein episches Delta, eine personifizierte Verflechtung von Narrationen, die dem Dichter jederzeit Abweichungen und Ausflüge erlauben würde.

      Die Arbeit an dem Phantom dauerte lange, der alte Goethe empfand es selber so. Aber sie endete bedeutungsschwer im Jahr der Befreiung Griechenlands, drei Jahre nach Byrons Tod in dieser Mission, 1827. »Wie ich im Stillen langmütig einhergehe werden Sie an der dreitausendjährigen Helena sehen, der ich nun auch schon sechzig Jahre nachschleiche, um ihr einigermaßen etwas abzugewinnen«, schrieb Goethe dem Freund Nees von Esenbeck, einem Meteorologen. Dabei handelte es sich bei seinen neuen Versen um eine ganz aktuelle Liebeserklärung an Byron, den mit Goethes Sohn August fast gleichaltrigen Freiheitskämpfer, der nun im Stück in Gestalt eines Kindes von Faust und Helena erschien: ein Euphorion als leuchtend, flirrend übermütiges Geschöpf mit einem frühen Tod.

      Byron selbst hatte diesen Tod in Wirklichkeit auch gesucht; denn er hatte kein allegorisches, sondern ein völlig realistisches Bild von Griechenland. Anders als Goethe engagierte er sich schon früh im Freiheitskampf aus dem Geist von Katharina der Großen. 1823 brach er mit einem gemieteten Schiff namens Hercules von Genua auf, um den aufständischen Griechen beizustehen, die ihren Krieg dann doch erst vier Jahre später unter großen Opfern und mit Hilfe der europäischen Nationen gewinnen konnten. Byron starb bald nach seiner Ankunft 1824 in Missolonghi, dem Hafen einer entscheidenden Schlacht, nicht als Heldenkämpfer, sondern am Fieber. Die Griechen betrauerten ihn außerordentlich. Nicht nur bestattete man sein Herz in Missolonghi und setzte ihm ein Denkmal, der griechische Nationalpoet Dionysios Solomos verfasste sogar ein Gedicht auf ihn, Söhne wurden namentlich nach ihm benannt und selbst eine Stadt nahe Athen. Seine letzte und einzige unmittelbare Botschaft an Goethe war ein ergreifender Dankesbrief vom 23. Juli 1823:

      »Erlauchter Herr – Ich kann Ihnen nicht gebührend für die Zeilen danken, die mein junger Freund Sterling mir von Ihnen übersandte, und es würde mir schlecht anstehen, Verse zu tauschen mit dem, der seit fünfzig Jahren der unbestrittene Herrscher über die europäische Literatur ist. – Sie müssen daher meinen aufrichtigen Dank in Prosa annehmen – und noch dazu in eiliger Prosa – denn ich bin wieder einmal auf einer Reise nach Griechenland – und umgeben von Hast und Unruhe, die kaum einen Augenblick selbst der Dankbarkeit und Bewunderung gestatten – Ich segelte vor einigen Tagen von Genua ab – wurde durch widrige Winde zurückgetrieben – bin dann wieder in See gestochen – und traf heute früh hier in (Livorno) ein, um einige griechische Passagiere für ihr im Kampf befindliches Land an Bord zu nehmen. – Hier auch fand ich Ihre Zeilen und Mr. Sterlings Brief vor – und kein günstigeres Omen und keine angenehmere Überraschung hätten mir zuteil werden können als ein Wort von Goethe, geschrieben von seiner eigenen Hand. – Ich kehre nach Griechenland zurück, um zu sehen, ob ich dort nicht irgendwie nützlich sein kann; – wenn ich jemals wiederkommen sollte, will ich Weimar einen Besuch abstatten, um die aufrichtige Huldigung eines Ihrer vielen Millionen Bewunderer darzubringen. Ich habe die Ehre, stets und ergebenst zu sein,

      Ew. dankbarer Bew[underer] und D[iener]

      Noel Byron«

      Eine deutsch-englische Wahlverwandtschaft im Faustgebiet hatte es freilich schon lange zuvor gegeben, wenn auch nie so innig wie zwischen Goethe und Byron. Seit 1600 reisten englische Comedians mit einem Faustspiel durch die Lande, auch durch die deutschen; denn seit 1587 gab es das deutsche Volksbuch mit der »Historia von J. Fausten dem weit beschreyten Zauberer«, gedruckt zu Frankfurt am Main von einem Johan Spies. Zwei Jahre später erschien die »Tragical History of Doktor Faustus« des englischen Autors Christopher Marlowe, ins Deutsche übersetzt allerdings erst 1818 von Wilhelm Müller, einem der bekanntesten Philhellenen seiner Zeit, ein Dichter, der nicht nur Franz Schubert zu seinen Liederzyklen »Die schöne Müllerin« und »Die Winterreise« inspirierte, sondern auch zahllose Lieder für die Freiheitsbewegung schrieb und als »Griechenmüller« bekannt wurde. Goethe hat Marlowes Stück angeblich erst durch Müller kennengelernt; er selbst berief sich immer auf das Puppenspiel seiner Frankfurter Kinderzeit, »wo Faust in seinem herrischen Übermut durch Mephistopheles den Besitz der schönen Helena von Griechenland verlangt«. In beiden Versionen wird Faust für seinen Pakt mit Mephisto bitter bestraft und muss zur Hölle fahren; zur Urform gehören aber auch Faust und Helena als Eltern mit einem Sohn namens Justus, der früh stirbt oder verschwindet, wie dann auch Goethes Euphorion.

      Als Goethe von Marlowe hörte, hatte es einen Faust für fromme Bürger schon länger auf deutschen Bühnen gegeben, nur stammte er nicht von Goethe, sondern vom theatererfahrenen August Klingemann, der das Stück im Hoftheater Braunschweig noch vor Goethes Tod zur Aufführung bringen sollte. Als Mitglied einer Theatertruppe nahm sich Klingemann Freiheiten heraus; er sah Faust zwischen einer Ehefrau Käthe und einer teuflisch maskierten Helena zerrieben. Die Uraufführung 1811 in Breslau mit Ludwig Devrient als Mephisto hatte europaweiten Erfolg. Offenbar war es ein Reißer geworden; farbig, grotesk und bombastisch. In London sah ihn auch einer der größten Goetheverehrer Englands, der historische Schriftsteller und Essayist Thomas Carlyle. Er hatte eigens Deutsch gelernt, aus Zuneigung zu den deutschen Denkern, vor allem zu Fichte. In Byrons Todesjahr sandte er Goethe seine Übersetzung von »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und begann eine jahrelange Korrespondenz mit dem alten Dichter. Carlyle spielte damals für die deutsche Literatur eine ähnliche Rolle für England wie Madame de Staël für Frankreich, deren Essay »Über Deutschland« von 1813 ein ganzes Kapitel hingerissener Faustlektüre enthielt. Carlyle, von ihr angeregt, besprach und lobte alle möglichen zeitgenössischen deutschen Autoren. Mit größter Hochachtung schrieb er sogar eine Biographie über Schiller, und »Faust I« wie auch die Helena-Phantasmagorie wurden eingehend von ihm gewürdigt.

      Goethe starb 1832. Nach seinem erklärten Willen erschien der zweite Teil des Faust, also »Faust II«, erst nach seinem Tode im Druck. Aufgeführt wurde er sogar erst 1856, nach dem Tod seines Gesprächsbruders Eckermann, der bis dahin als Treuhänder des Werkes galt. Goethes letzte Regieanweisung lautete: »Helenes Gewande lösen sich in Wolken auf, umgeben Faust, heben ihn in die Höhe und ziehen mit ihm vorüber.« Diese Helena ist nicht nur keine Hexe, sondern rettet im Gegenteil Faust vor der Verdammnis. In Englands frommer Gesellschaft wurde das immer wieder getadelt. Sollte die griechische Helena mit Faust womöglich die Deutschen retten – und wenn ja: wovor? Entrückung und Versöhnung gelingen hier jedenfalls im Zeichen der Meteorologie, der sich Goethe zum Ende seines Lebens widmete. In einem früheren Entwurf hieß es wahrhaft himmlisch: »Die Wolke steigt halb als Helena nach Süd-Osten halb als Gretchen nach Nordwesten.«

       ZWEITES KAPITEL

       1832

      Der Staat als Ziel. Philhellenische Hilfe: Katharina II., die Grafen Orlow und Kapodistrias. Die Schweizer und Jean-Gabriel Eynard. Die Engländer und Lord Byron. Die Bayern und Otto I. Die Heimholungen Griechenlands im Roman, in Architektur und Kunst. Goethes Faust II als Oper.

      Im Mai 1832, zwei Monate nach Goethes Tod und elf Jahre nach Beginn des Freiheitskampfes, erhielten die Griechen einen Staat. Zum ersten Mal seit der Antike sollte es wieder ein eigenes Land griechischer Sprache geben, zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrtausend wäre es nicht mehr Teil eines christlichen Großreiches, sondern ein selbständig christlicher Staat, wenn auch mit langer nichtchristlicher Vorgeschichte,