aventures de Télemaque« von 1699 wurde zu einem europäischen Bestseller und unverzüglich ins Deutsche übersetzt. »Die seltsamen Begebenheiten des Telemach. Ein Staatsroman« erzählt in einem pseudohistorischen und zugleich utopischen Plot vom Sohn des Odysseus und dessen Lehrer Mentor (hinter dem sich die Göttin Athene verbirgt); die beiden reisen zusammen durch diverse Staaten, die meist durch Schuld ihrer von Schmeichlern und falschen Ratgebern umgebenen Herrscher zugrunde gehen: ein Spiegelbild für das kriegsverstrickte und verarmende Frankreich des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Mentor weiß aber Rat, indem er friedlichen Ausgleich mit Nachbarn empfiehlt, Wachstum und Förderung der Landwirtschaft anregt sowie Minderung der Luxusgüter. Ludwig XIV. verbot das Buch sofort nach Erscheinen, aber es kam in anderen französischen Ausgaben auch nach Brüssel und Den Haag und eroberte sich als Mischung zwischen Fürstenspiegel und Bildungsroman sein oft jugendliches europäisches Publikum.
Ähnlich graekophile Geschichten folgten in Deutschland und inspirierten die griechischen Freiheitskämpfer ihrerseits. Goethes »Werther« (1774) fühlte und handelte zwar ganz zeitgenössisch deutsch, konnte aber dennoch von Homer wie von einem Großvater schwärmen; während Christoph Martin Wielands »Geschichte des Agathon« (1767–1777) in einem fiktiven Hellas spielte und tatsächlich 1814 vom Direktor der Smyrna-Schule, Konstantin Kumas, ins Neugriechische übersetzt wurde. Ein Jahr vor der Revolution erschien dann in Frankreich »Die Reise des jungen Anachasis in Griechenland« (1788) des Archäologen Jean-Jacques Barthélemy, begonnen 1757 und 1819 ebenfalls ins Griechische übersetzt. Auch und gerade dieser Bericht hat sich europaweit verbreitet und wurde bis 1893 ununterbrochen aufgelegt. Noch im 20. und 21. Jahrhundert wurde der Plot von Künstlern und Dichtern erwidert, zuletzt 2014 von Marlene Streeruwitz: »Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland«, nun also erstmals von einer Frau geschrieben und von einer Frau handelnd. Im Original ging es dabei um einen sogenannten »edlen Wilden«, einen jungen Skythen, Sohn des berühmten skythischen Philosophen Anacharsis, der durch ganz Hellas reist und rückblickend die Gebräuche, die Regierung, die Kunstwerke, die Sprache, Dichtung und das ganze ihm eigentlich fremde, nun aber gegenwärtige Land schildert, um zeitgenössischen Lesern eine mehrschichtige Kenntnis zu liefern. Es wurde eine Art Sachbuch; eine spätere Ausgabe enthielt sogar noch genaue Karten für Zeitreisende zum 4. Jahrhundert vor Christus. Auch dieses Buch traf mit seinem revolutionären Horizont ins Herz des griechischen Aufstands, denn der wichtigste Anführer, Rigas Velestinlis, lieferte eine neugriechische Übersetzung des vierten Bandes mitsamt persönlichen Anmerkungen. Doch wurde der Autor von der Zensur erfasst, verhaftet und in Bukarest hingerichtet.
In diesen Jahren konnten deutsche Leser also, neben dem immer noch unübertroffenen antiken Pausanias, ganz reale Ortsbeschreibungen des antiken Hellas wie auch des gegenwärtigen Griechenland von Autoren wie Pierre Guys und Richard Chandler lesen; und wenn Goethes Werther von seiner Homerlektüre schwärmt, galt das nicht unbedingt einer originalsprachlichen. Auch den herrlich illustrierten Reisebericht von Gabriel de Choiseul-Gouffier, einem Diplomaten und Althistoriker, konnten die von Winckelmann aufgeweckten Geister schon 1782 studieren, jedenfalls den ersten Band seiner »Voyage pittoresque de la Grèce«, um sich mit den dort beschriebenen Zuständen des gegenwärtigen Landes unter osmanischer Herrschaft zu befreunden, sie mindestens zur Kenntnis zu nehmen, wenn das nicht schon Chandler ein paar Jahre zuvor gelungen war. Choiseul-Gouffier war Botschafter an der Hohen Pforte von 1784 bis 1791; mit der Französischen Revolution, die er erbittert bekämpfte, verlor er den Posten und seine Besitztümer. Er floh nach Russland, wo man ihn zum Direktor der Akademie der Künste und der kaiserlichen Bibliothek ernannte. Katharina die Große schenkte ihm Ländereien in Litauen; 1802 kehrte er nach Frankreich zurück, 1809 erschien der zweite Band, und als der dritte 1822 posthum erschien, war der Freiheitskampf der Griechen schon in vollem Gang.
Im Dezember 1821 nämlich war in Nea Epidauros eine erste griechische Nationalversammlung zusammengetreten; und im selben Jahr exkommunizierte das Patriarchat von Konstantinopel auf Befehl der Hohen Pforte alle Aufständischen. Auf welche Tradition wollten die aufsässigen Griechen sich jetzt berufen? Nicht nur die politische Abspaltung eines Landes aus einem Großreich, auch der Konflikt zwischen einer heidnischen Antikenverehrung und einer über tausendjährigen christlichen Orthodoxie im byzantinischen Reich war unausweichlich. Tatsächlich nahm die Kirche in Konstantinopel ihre Glaubenskinder erst nach Ottos I. Abdankung 1863 wieder zurück; dabei hatte eine 1833 eigens einberufene Synode von Athen ohnehin die griechische Kirche für autokephal erklärt und damit die Freiheitsbewegung gestärkt. Es war eine plausible Maßnahme, denn nur so war die Zustimmung der Landbevölkerung zu erreichen. Allein die Propaganda eines idealistisch gebildeten, womöglich sogar protestantischen Philhellenentums hätte die ungebildeten Einwohner auf dem Lande und in den Bergen niemals wirklich beeinflusst. Eindruck gemacht hätte hier allenfalls das griechische Militär mit seiner Hoffnung auf Wiedergewinnung des alten byzantinischen Reiches mit Konstantinopel am Horizont; man sprach hier von der sogenannten »Megali Idea«, von dem großgriechischen Reich, die das politische Handeln des neuen griechischen Staates dann bis 1922 teils glücklich, teils desaströs tatsächlich bestimmen sollte.
Doch vorerst trugen Klephten und Clans ihre Streitigkeiten trotz fremder Mächte weiter aus wie bisher und wollten sich keiner Zentralgewalt unterwerfen. Nach einer katastrophalen Niederlage in Missolonghi 1826 kam es im Oktober 1827 zur entscheidenden Schlacht im Hafen von Navarino; die europäische Flotte versenkte fast alle Schiffe des ägyptischen Sultans Mehmet, der dem Osmanischen Reich noch einmal zu Hilfe gekommen war. Ein Protokoll hielt die Kapitulation der Türkei fest, und im April wurde schließlich Graf Ioannis Kapodistrias aus Korfu, ein erfahrener Politiker in russischen Diensten, Mitglied von Filiki Eteria und Gründer des Vereins der Philomusen, zum ersten Präsidenten einer ersten Verfassung gewählt. Mit zahlreichen Maßnahmen versuchte er eine Zentralverwaltung gegen die widerspenstigen Provinzherren durchzusetzen, wurde aber 1831 von griechischen Clanchefs ermordet. Gerüchte kursierten, es sei ein englischer Hinterhalt gewesen, um Russland keinen zu großen Einfluss auf das griechische Geschick zu lassen; andere Gerüchte besagten im Gegenteil, er sei das Werkzeug Russlands geblieben, und wieder andere verdächtigten ihn, selbst König werden zu wollen. Lulu Gräfin Thürheim, die ihn 1817 in Karlsbad kennenlernte, beschrieb ihn jedoch in ihren Erinnerungen ungemein beeindruckt: »Es ist dies ein bescheidener Mann, dessen Charakter und Verstand ihm jedoch die Herrschaft über alle geben, mit denen er verkehrt; sein durchdringender und schwermütiger Blick offenbart von Haus aus die Seele eines Philosophen, der über alles nachgedacht und erkannt hat, dass nichts auf dieser Welt großen Wert besitzt. Sein griechischer Akzent (er ist Korfe) verleiht seiner Aussprache etwas Fremdes und Graziöses, das mit der Ruhe seiner Bewegungen, seiner originellen Beredsamkeit und der Harmonie in seinem ganzen Wesen übereinstimmt und ihn in meinen Augen ganz anders erscheinen lässt, wie die übrigen Leute von Geist, mit denen ich bisher zusammentraf. Nichts verrät an ihm den Günstling. Capo d’Istria wäre vollkommen liebenswert, wenn er um zehn Jahre älter wäre, denn mit seinen kaum vierzig Jahren und seinem reizenden Lächeln und Augen, wie ich sie noch nie so schön gesehen habe, könnte er etwas weniger ernst und mehr jung sein.«
Trotz oder wegen andauernder Spannungen im Lande einigten sich die Großmächte in einem zweiten Londoner Protokoll nun auf den jungen bayerischen Kronprinzen Otto von Wittelsbach, der von seinem Vater ohnehin schon in leidenschaftlicher Griechenverehrung erzogen worden war. Mit Otto kamen an die sechstausend Helfer ins Land, teils Soldaten, teils Beamte, teils einfach Abenteurer oder gebildete Freunde des Landes, von denen viele später ebenfalls zu Beamten erhoben wurden. Es wurde eine erste Begegnung der Deutschen mit der griechischen Realität in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht; und es wurde eine oft zermürbende, teils von rücksichtslosem Herrschaftswillen, teils aber auch von großem Idealismus getragene Koexistenz. Faust und Helena, mochte man meinen, versuchten sich endlich in einer Ehe, deren Stifter inzwischen gestorben war. Um dem antiken Ideal näher zu kommen und das Land mit Verstand zu regieren, brauchte man Juristen, Soldaten, Lehrer, Architekten, Dichter und Maler. Verwaltung, Bildung, Militär, Rechts- und Sozialwesen mussten eingerichtet werden; und das Leitbild gab dabei natürlich der bayerische Staat unter Ludwig I. ab, dessen Griechenliebe schon bis ins »y« im Landesnamen von Bayern hineingereicht hatte. Zu den bekanntesten deutschen Kulturhelfern der neuen Athener Regierung zählten damals neben dem Pädagogen Friedrich Thiersch, dem engagierten Lehrer von Otto, auch der Architekt Friedrich Wilhelm von Gärtner, Erbauer des Athener Schlosses und