in Regensburg spiegelte trotz ihres germanischen Namens das Parthenon. Klenze war zwar stärker als Gärtner hellenistisch inspiriert, aber dennoch kein verträumter Griechenfreund wie sein größter Konkurrent aus Preußen, Karl Friedrich Schinkel. Dieser glanzvolle Baumeister und schließlich sogar Oberbaurat des gesamten Landes war Philhellene durch und durch, dazu ein begabter Maler und Bühnenbildner, auch wenn fast die Hälfte seiner Entwürfe blieben, was sie waren. 1825 widmete er sein letztes großformatiges Gemälde namens »Blick in Griechenlands Blüte« dem griechischen Freiheitskampf; es zeigte halbnackte junge Männer beim Tempelbau nach den Regeln griechischer Architektur. Und nun, anlässlich des bayerischen Regierungsantritts, entwarf er auf Anregung des preußischen Kronprinzen einen Palast, der eine Akropolis völlig umgestalten sollte, die Schinkel selber nie gesehen hatte. Die Ruinen von Parthenon, Propyläen, Erechtheion und Niketempel sollten abgeräumt und in Gärten integriert werden. Erwartungsgemäß kritisierte Leo von Klenze die umfangreichen Pläne heftig und erfolgreich als »Sommernachtsträume« und meinte, die welthistorische Athener Akropolis dürfe allein Sache der Archäologen sein.
Wirklich gehörte Schinkel, wie die meisten preußisch protestantischen Philhellenen im 19. Jahrhundert, zu den Auslandsfreunden, die sich aus zweiter und dritter Hand über die leibhafte Wirklichkeit Griechenlands informierten. So etwa hatte er ausgiebig das Werk der Engländer Stuart und Revett studiert, das für die Zwecke eines Architekten wie geschaffen war, da es die genauesten Maßangaben und Zeichnungen einschließlich der antiken Grundrisse enthielt und damit ohne weiteres in architektonische Lehrbücher und Sammlungen architektonischer Entwürfe eingehen konnte. Europäische Baukunst war für Schinkel gleichbedeutend mit griechischer Baukunst, im Sinne Winckelmanns und nach der Devise, »das Notwendige der Construction schön zu gestalten«. Aber Schinkel begeisterte sich eben auch für phantastische Architektur; an die vierzig Bühnenbilder stammen von ihm. 1816 hatte er mit seiner Berliner Ausstattung von Mozarts »Zauberflöte« Goethe für sich gewonnen; es waren zwölf herrlich orientalisierende Bühnenbilder, darunter das sternenübersäte Pantheon für den Auftritt der »Königin der Nacht«.
Keinen anderen Opernkomponisten hat Goethe in Weimar so häufig aufgeführt wie Mozart; zwischen 1791 und 1813 wohl fast dreihundertmal; darunter die Zauberflöte mit 82 Aufführungen am häufigsten. Dass Goethe selber eine Fortsetzung zu der Oper verfasst hat, ist fast vergessen, dabei gab es schon seit 1795 erste Entwürfe, die auch gedruckt, aber nie aufgeführt wurden. Angeblich fand Goethe keinen Komponisten dafür; angeblich hatte Mozarts Librettist, Emanuel Schikaneder, eine eigene Fortsetzung gedichtet. Goethes »Zauberflöte II« hatte seltsamerweise nur ein Thema: das Kind, das Pamina und Tamino sich wünschen und gezeugt haben, und das schließlich nach einer Irrfahrt als »Genius« aus einem Sarg gerettet wird, während die Kinder von Papageno und Papagena aus drei Vogeleiern schlüpfen. Das Motiv des bedrohten, geraubten, verschleppten oder gar getöteten Kindes gehörte zu Goethes Schlüsselphantasien. Seit der realistischen Kindsmordepisode aus »Faust I« stand das nahezu alchemistisch gezeugte Knäblein Otto aus den »Wahlverwandtschaften« von 1808 in seinem Horizont, und präsent war Goethe natürlich beständig auch das Knäblein Justus aus dem faustischen Puppenspiel in Frankfurt. Das Geschöpf, welches später als Euphorion in »Faust II« abenteuerlich umhertanzt, ähnelt dem Schicksalskind aus der Zauberflöte II bedeutsam. Denn auch diese Zauberflöte II durchzieht ein Hauch von paradoxer, weil mythologischer Naturwüchsigkeit, wenn der Nachwuchs vom Vogelfänger, der ja selber kein Vogel ist, aus Eierschalen springt. Es war eine Anspielung auf Helena, die nach der Sage von einem schwangestaltigen Zeus gezeugt und von der Mutter Leda in einem Ei geboren wurde, zusammen mit Zwillingen, den Dioskuren. Zugleich wird in diesem Libretto auch höhere Weisheit bemüht, die Weisheit der Freimaurer, die schon Mozarts Komposition erfüllt. Der Mythos von Isis und Osiris steht hinter den Zeilen und den erahnten Noten; das Kind dieser beiden ist kein anderer als Horus, das Götterkind, der oberste Gott der ägyptischen Religion. Gab es also hinter Faust und Helena ein hochkulturelles, orientalisches Muster, ein Muster, das zwar nicht auf Erlösung, wohl aber auf Versöhnung der Gegensätze aus war? So wollten es spätere Erben der goetheschen Spätwelt verstanden wissen, als es um den Grundstein der sogenannten »Anthroposophie« gehen sollte; so hat es auch seit 1956 dann Katharina Mommsen dokumentiert, die dem Herzstück der west-östlichen Goetheforschung ein Lebenswerk gewidmet hat.
Dass auch Goethe sich seinen »Faust« überhaupt als Oper vorstellen konnte, ja ausdrücklich wollte, ist bekannt; auch und gerade »Faust II« erfüllt ja nach den Regieanweisungen die Liebeshöhle des Hohen Paares mit Komposition: »vielstimmige Musik« erklingt zur Geburt des Euphorion. Das musikalische Publikum und die Komponisten folgten der Anregung. Noch zu Goethes Lebzeiten gab es ein halbes Dutzend Vertonungen, in Frankreich wie in Deutschland, auch unter Goethes Mitwirkung. Bis hin zu Thomas Manns Dr. Faustus, dem Tonkünstler, war Goethes Drama eben auch Tonkunst, ergötzendes Klangschauspiel, mit den ausschweifenden Möglichkeiten der Verskunst und den harmonischen Möglichkeiten eines wohltemperierten Systems – und damit also auch mit den Hoffnungen auf eine erlösende Koexistenz von Faust und Helena und allem, was sie an scharfen Kontrasten eigentlich personifizierten.
DRITTES KAPITEL
1832 bis 1871
Nachrichten aus Weimar, Wien, Athen. Die neue Sprache Katharevousa. Jakob Philipp Fallmerayer als linguistischer Scharfrichter. Sprachenlernen als »furchtbare Passion«: Auftritt Heinrich Schliemann. Die unglaubliche Laufbahn eines ostdeutschen Pfarrerssohns. Heinrich und der »Schatz des Priamos«; Heinrich und Helena: das Traumpaar des deutschen Hellenismus.
Die politische Realität hinter dem Harmoniebegehren von 1827, dem Jahr des griechischen Triumphs und der goetheschen »Helena«, sah aber natürlich ganz anders aus. Bei aller Liebe zu Musik und Dichtung und zum alten Griechenland schätzte Goethe die Lage eher realistisch ein. Am 2. April 1829 brach es im Gespräch mit Eckermann geradezu prophetisch aus ihm heraus: »›Ich will Ihnen ein politisches Geheimnis entdecken‹, sagte Goethe heute bei Tisch, ›das sich über kurz oder lang offenbaren wird. Kapodistrias kann sich an der Spitze der griechischen Angelegenheiten auf die Länge nicht halten, denn ihm fehlet eine Qualität, die zu einer solchen Stelle unentbehrlich ist: er ist kein Soldat. Wir haben aber kein Beispiel, daß ein Kabinettsmann einen revolutionären Staat hätte organisieren und Militär und Feldherrn sich unterwerfen können. Mit dem Säbel in der Faust, an der Spitze einer Armee, mag man befehlen und Gesetze geben, und man kann sicher sein, daß man gehorcht werde; aber ohne dieses ist es ein mißliches Ding. Napoleon, ohne Soldat zu sein, hätte nie zur höchsten Gewalt emporsteigen können, und so wird sich auch Kapodistrias als Erster auf Dauer nicht behaupten, vielmehr wird er sehr bald eine sekundäre Rolle spielen. Ich sage Ihnen dieses voraus; es liegt in der Natur der Dinge und ist nicht anders möglich.‹«
Dass der griechische Aufstand den ehemaligen russischen Gesandten Kapodistrias plötzlich in die Rolle eines Napoleon versetzen könnte, wie nun 1827 durch die revolutionären Zustände im Osmanischen Reich, muss Goethe tatsächlich erschreckt haben. Er hatte den Grafen zwei Jahre zuvor in Weimar kennengelernt; ein junger Schützling der »Philomusen« – dem Bildungsverein des Grafen – studierte damals in München und übersetzte hingebungsvoll Goethes »Iphigenie« ins Griechische. Genauer, er übersetzte das berühmteste Stück des deutschen Philhellenentums in die neugriechische Kunstsprache Katharevousa, die der Schriftsteller Adamantios Korais erfunden hatte und dem jungen Staat einprägen wollte. Es war eine idealistische und zugleich ganz realpolitische Initiative. Das Motiv der auch sprachlich gradlinigen Abstammung aus dem alten Hellas befeuerte natürlich nicht nur die gebildeten Ausländer, sondern vor allem die griechischen Intellektuellen selber; auf dem Weg zu einer nationalen Wiedergeburt wollte man die Dialekte hinter sich lassen, die im osmanischen Vielvölkerstaat zwangsläufig entstanden waren. Das Experiment gelang nur halb, denn anders als in Israel, wo das zurückeroberte Hebräisch tatsächlich eingebürgert werden konnte, blieb die Katharevousa als eher förmliche Schrift- und Amtssprache nur bis 1976 erhalten, nur wenig länger als die griechische Monarchie. Seither wird eine gehobene Alltagssprache namens Dimotiki benutzt, die aber durchaus antike Herkunft erkennen lässt.
Es war absehbar, dass es mit der Gründung eines griechischen Staates auch zu heißen Kämpfen um die zukünftige