übernahm die Expositur Gries am Brenner, zugehörig der Pfarre Vinaders (Expositur: Seelsorge ohne eigene Vermögensverwaltung). In dieser Kleingemeinde konnte er seelsorglich tätig sein, was ihm sehr wichtig war, gleichzeitig blieb ihm genügend Zeit, die Redaktion des „Volksboten“ weiterzuführen.
Als Reimmichl 1897 zum „Tiroler Volksboten“ stieß, standen die alten Streitthemen zwischen Konservativen und Liberalen nach wie vor auf der Tagesordnung. Im Wesentlichen ging es immer um die gleichen drei Themenkreise: die antiklerikalen Angriffe der Liberalen und Sozialdemokraten; die Wirtschaftspolitik und ihre Auswirkung auf die Bauern sowie der Kampf um die Vorherrschaft im katholischen Lager.
Der „Tiroler Volksbote“ unter Reimmichl sah seine zentrale Aufgabe darin, die katholische Glaubens- und Sittenlehre darzulegen und zu verteidigen und so die ländliche Bevölkerung gegen liberale und sozialdemokratische Lockrufe zu immunisieren. Reimmichl trug wesentlich dazu bei, dass dieses Ziel erreicht wurde und die Liberalen und Sozialdemokraten im Kampf um die Bauern unterlagen.
Die Welt hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die industrielle Revolution und den Ausbau der Verkehrsnetze stark verändert. Auch hier standen sich zwei Richtungen gegenüber. Die eher kosmopolitisch denkenden Liberalen traten für eine freie, grenzenlose Wirtschaft ein, die Konservativen wollten eine regulierte Wirtschaft zum Schutz der einheimischen Betriebe und Arbeitsplätze.
Der „Tiroler Volksbote“ wurde als Blatt für die Landbevölkerung gegründet, die damals größtenteils in der Land- und Forstwirtschaft und im Kleingewerbe tätig war. Auf diese Zielgruppe war auch der Inhalt abgestimmt. Gerade die Bauern und die kleinen Handwerker litten am meisten unter der freien Wirtschaft, da das Land plötzlich ohne das ausgleichende Element der Zollschranken von billiger ausländischer Ware überschwemmt wurde.
Der „Volksbote“ stand daher von Anfang an auf Seite der Bauern und Kleinbetriebe und trat für den Schutz der inländischen Wirtschaft gegen die ausländische Konkurrenz ein, wobei seine Angriffe den damals rasch wechselnden Regierungen, vor allem aber den Großindustriellen und Bankiers galten, die für eine freie Wirtschaft eintraten.
Aber auch im katholischen Lager herrschten stürmische Zeiten. Innerhalb der katholisch-konservativen Partei hatte sich unter der Führung des bereits genannten Aemilian Schoepfer eine neue, sozial ausgerichtete Gruppierung gebildet. Sie nannte sich „Schärfere Tonart“ und geriet mit der Führung der Konservativen zusehends in Konflikt.
Die Tiroler Konservativen, die von Adeligen und Intellektuellen angeführt wurden und sich vorwiegend auf Großgrundbesitzer und Bauern stützten, betrachteten die drei Landesbischöfe als ihre Anführer – auch in politischen Fragen, obwohl die Bischöfe diese Rolle keinesfalls angestrebt haben. (Tirol war unter drei Diözesen aufgeteilt: das Unterinntal ab dem Ziller gehörte zu Salzburg, das südliche Tirol ab Klausen zu Trient, und der Rest zur Diözese Brixen, wobei der Brixner Fürstbischof in der Politik die größte Rolle spielte.) In ihrer Politik wollten die Konservativen – überspitzt gesagt –, dass alles im Lande so bleibt, wie es ist, obwohl sich in jenen Tagen ein unaufhaltsamer politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel vollzog.
Zeitungskopf des „Tiroler Volksboten“ vom 1. März 1894
(Foto: Archiv)
Die Gruppe der „Schärferen Tonart“ stand zwar auch fest auf katholischem Boden, lehnte aber die bischöfliche Mitsprache in politischen Angelegenheiten ab. Den Bischöfen wurde nur Autorität in religiösen und sittlichen Dingen zugestanden. Außerdem war es für diese Gruppe von großer Bedeutung, die wirtschaftliche Situation der Arbeiter, kleinen Handwerker und Bauern zu verbessern, und zwar durch eine Neuorientierung des Wirtschaftssystems. Leitlinie war dabei die Sozialenzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII., die 1891 gerade erschienen war.
Diese Spannungen führten letztlich 1898 unter Führung von Aemilian Schoepfer zur Abspaltung und Gründung einer zweiten katholischen Partei. Sie nannte sich „Christlichsoziale Partei“. Vorbild war die von Dr. Karl Lueger 1893 gegründete namensgleiche Partei in Wien. Zu deren Forderungen gehörte auch eine Reform des Kurienwahlrechts. So waren nach damaligem Wahlrecht nur Männer stimmberechtigt, die direkte Steuern in einer vorgegebenen Mindesthöhe zahlten. Außerdem wurden die einzelnen Stimmen je nach Stand und Vermögen unterschiedlich gewichtet. Dadurch waren weite Bevölkerungskreise von der Wahl ausgeschlossen. Erst als 1907 das (Männer-)Kurienwahlrecht in ein allgemeines Wahlrecht umgewandelt wurde, begann der Aufstieg der Christlich-Sozialen und der Sozialdemokraten zu Massenparteien; die Liberalen und Konservativen aber, die sich kaum für den „kleinen Mann“ interessiert hatten, verloren ihre Bedeutung.
Die Folge war nun ein erbitterter Kampf im katholischen Lager um die Vorherrschaft im Lande. 1904 gelang es den Christlichsozialen, die Mehrheit der Bauern, die bisher konservativ waren, auf ihre Seite zu ziehen. Unter wesentlicher Mitwirkung Reimmichls kam es zur Gründung des Tiroler Bauernbundes, der sich zu einer schlagkräftigen Interessensvertretung des Bauernstandes entwickelte. Reimmichl gilt als der geistige Vater des Bauernbundes. Als dann die Christlichsozialen die Landtagswahl 1907 für sich entschieden, war der Kampf vorbei, nicht aber der Streit, denn eine Versöhnung fand erst nach dem Ersten Weltkrieg statt.
Auch die einflussreiche Geistlichkeit war in dieser politischen Auseinandersetzung in zwei Lager geteilt: Die bischöfliche Kurie, die Dekane und Pfarrherren – also die Etablierten – standen vielfach auf Seite der Konservativen, die Professoren des Brixner Seminars, von dem die „Schärfere Tonart“ ausgegangen war, die Kooperatoren und Kapläne unterstützten mehrheitlich die Christlichsozialen. Reimmichl stand auf Seite der Christlichsozialen, deren Vorstellungen er bereits während der Jahre im Priesterseminar kennengelernt hatte.
Die Auseinandersetzungen zwischen Christlichsozialen und Konservativen führten dazu, dass es nach einiger Zeit nicht einmal mehr eine gemeinsame Gesprächsbasis gab. Erst eine Privatinitiative Reimmichls sollte wieder Bewegung in die Beziehungen bringen. Reimmichl hatte nie ein offizielles poltitisches Amt inne.
Reimmichl lud Nikolaus Recheis, Kaplan der „Irrenanstalt“ in Hall, zu einem Gespräch nach Gries am Brenner. Recheis war nicht nur Kaplan, er war auch Chefredakteur der „Tiroler Stimmen“, des Zentralorgans der Konservativen, und enger Vertrauter von Landeshauptmann Theodor Kathrein. Reimmichl wollte ausloten, auf welche Weise der Friede im Lande und zwischen den Parteien wiederhergestellt werden könnte.
Von dieser Einladung berichtete Recheis umgehend dem Landeshauptmann, wobei er festhält, dass Reimmichl „gewiss ein sehr einflussreicher und gewichtiger Mann im Lande und in seiner Partei“ ist.
Es gelang auch ein Entwurf für ein gemeinsames Programm, das eine Verschmelzung der beiden Parteien vorsah. Letztlich jedoch scheiterte dieser Versuch, da der Graben zwischen den beiden katholischen Parteien bereits zu tief war.
In dem erwähnten gemeinsamen Programmentwurf heißt es unter Punkt fünf: „Die Konservativen sind ebenfalls für einen berechtigten christlichen Antisemitismus.“ Damit stellt sich die Frage nach dem Antisemitismus des Reimmichls.
Recheis erläutert diesen Punkt in einem Brief an Landeshauptmann Kathrein: „Punkt 5 ist ein Zugeständnis und gewiss recht unklar abgefasst, und mit Recht wird man fragen: Was ist das: berechtigter christlicher Antisemitismus? Wir wollten damit aber nur sagen, dass wir keine Judenfreunde sind, die Auswüchse und den unheilvollen Einfluss des Judentums ebenso verabscheuen wie die Christlichsozialen. Wir mussten diesen Punkt aufnehmen, weil uns gesagt wurde, dass man von christlichsozialer Seite darauf großes Gewicht lege und im Judenpunkt wenigstens etwas zugestanden werden müsse.“ Daraus ist ersichtlich, dass dieser Passus auf ausdrücklichen Wunsch Reimmichls hineinkam, weil er den Christlichsozialen sehr wichtig war.
Aemilian Schoepfer lernte in Wien die dortigen Christlichsozialen kennen und bewunderte ihr Wirtschaftsprogramm und ihre Sozialpolitik. Allerdings war ein ausgeprägter Antisemitismus ein Wesensmerkmal dieser Partei, den Schoepfer und seine Anhänger mit übernahmen.
Juden wurden jahrhundertelang von vielen sogenannten ehrbaren Berufen gesetzlich ferngehalten und waren deshalb auf