Rieger, besser bekannt als Reimmichl. Ohne strenge Chronologie soll seine Persönlichkeit nachgezeichnet werden. Wer war dieser vielseitige Zeitungsschreiber und Heimatschriftsteller im Priesterrock? Reimmichl lebte und wirkte in einer Zeit, die uns heute weitgehend fremd geworden ist. Sein Denken und Tun wird daher nur vor dem jeweiligen geschichtlichen Hintergrund verständlich. Deshalb wird diesem Aspekt besonders Rechnung getragen.
Der erste Teil ist seinem Leben und seiner Arbeit gewidmet, der zweite Teil zeigt, mit welcher Art von Kurzgeschichten er „wirklich und wahrhaftig vier Generationen“ Freude bereitet hat.
Mit mehr als 60 Büchern, 200 Kurzgeschichten und seinem „Reimmichlkalender“ erreichte er viele Hunderttausende begeisterte Leser.
Reimmichls Leben lässt sich in zwei Abschnitte teilen: Im ersten, der bis 1919 reicht, begegnen wir ihm als erfolgreichem Zeitungsmacher. Im zweiten Abschnitt ab 1920 wird er zum nicht weniger bedeutenden Kalendermacher. Und als solcher ist er bis heute noch vielen in Erinnerung.
Reimmichl war in erster Linie Priester und Seelsorger. Seine Arbeit als Zeitungs- und Geschichtenschreiber betrachtete er als Teil der Seelsorge. Es gelang ihm mit seinen Themen und seinem Stil direkt zu den Herzen der Leser vorzudringen. Die legendäre Leser-Blatt-Bindung beim „Tiroler Volksboten“ war ein Beweis dafür.
Als Hauptquelle für diese Lebensbeschreibung diente die Reimmichl-Biografie von Dr. Hans Brugger, erschienen im Reimmichlkalender 1955. Brugger war Reimmichls Neffe und Mitarbeiter der späten Jahre. Verwendet wurde auch das Büchlein „Reimmichl – Eines Volksdichters Leben und Schaffen“, 1927.
Für die Darstellung des politischen Hintergrundes wurde u. a. herangezogen: Richard Schober, „Das Verhältnis der Katholisch-Konservativen zu den Christlich-Sozialen in Tirol bis zu den Reichsratswahlen von 1907“, erschienen in „Tiroler Heimat“, Bd. 38, 39, und ebenfalls von Richard Schober: „Theodor Freiherr von Kathrein (1842–1916) – Briefe und Dokumente, 1992“.
Dazu standen einige wenige Originalbriefe Reimmichls und mündliche Berichte von Zeitgenossen zur Verfügung sowie Selbstaussagen im „Tiroler Volksboten“ der Jahre 1897 bis 1919.
Paul Muigg
REIMMICHL
PRIESTER – SEELSORGER – PUBLIZIST
EIN LEBEN FÜR DIE LESER
Daheim im Defereggen
Die Bedeutung, die ein Ort für unser Leben besitzt, hängt nicht allein von der Länge der Zeit ab, die wir dort verbringen, sondern mehr noch davon, in welcher Lebensphase wir uns dort aufhalten. So sind die Eindrücke und Erlebnisse der Kindheit und Jugend viel tiefer und nachhaltiger als die späterer Zeiten. Das gilt auch für Reimmichl, der am 28. Mai 1867 als Sebastian Rieger am Eggerhof in St. Veit-Inneregg in Defereggen das Licht der Welt erblickte. St. Veit und das Defereggental bildeten die nächsten Jahre die geografischen Grenzen seines kindlichen Lebensraumes.
Als Dreizehnjähriger verließ er dann das Tal, zuerst um die nächsten acht Jahre das Gymnasium in Brixen zu besuchen und anschließend, um sich vier Jahre im Theologischen Seminar auf das Priesteramt vorzubereiten. In dieser Zeit verbrachte er nur mehr die Sommerferien daheim. Später kehrte er überhaupt nur noch zu gelegentlichen Kurzbesuchen ins Elternhaus zurück. Dennoch blieb Reimmichl zeitlebens dem Defereggental und seinen Menschen tief verbunden. Darauf verweisen auch viele seiner späteren Romanfiguren, für die Menschen aus seiner engeren Heimat als Vorlage dienten.
Heute erreicht man das Osttiroler Defereggental problemlos mit dem Auto, entweder über die Felbertauernstraße, über Lienz oder – im Sommer von Südtiroler Seite aus – über den 2000 m hohen Staller Sattel. Vor 150 Jahren war das noch ganz anders. In Reimmichls Geburtsjahr 1867 fuhr noch kein Auto auf den Straßen und auch die Eisenbahn kannte man in Osttirol nur vom Hörensagen, denn die Bahnstrecke durch das Pustertal wurde erst 1871 eröffnet.
Somit war der Schritt das Entfernungs- und Zeitmaß jener Tage. Man ging zu Fuß, selten stand ein Fuhrwerk oder eine Kutsche zur Verfügung. Nachrichten übermittelte man schriftlich durch die Post oder durch Boten bzw. Botinnen. Und das blieb noch einige Jahrzehnte so.
Wer 1867 von Lienz ins Defereggental wollte, wanderte durch das Iseltal nordwärts und erreichte nach etwa vier Stunden den kleinen Ort Huben. Für dieselbe Strecke benötigt man heute mit dem Auto 20 Minuten. In Huben münden dann zwei Täler: rechts führt eine Straße nach Kals am Fuße des Großglockners und links verschließt zuerst einmal eine enge, dunkle Schlucht, durch die die Schwarzach hervorbricht, den Blick ins Defereggental. Die Straße ins Tal umfährt diese Schlucht in einem weiten Bogen und erklimmt so den Beginn dieses Hochtales. Schon seit Jahrhunderten führte zwar ein schmaler, rauer Karrenweg durchs Defereggental, aber erst 1910 wurde die heutige Straße errichtet und seither ständig weiter ausgebaut.
Die Deferegger Talstraße verbindet die Gemeinden Hopfgarten (1100 m, 800 Ew.), St. Veit (1500 m, 800 Ew.) und St. Jakob (1400 m, 1000 Ew.). Die drei Orte setzen sich auf einer Länge von über 20 km aus einer Vielzahl von Weilern – hier Rotten genannt – zusammen. Der Großteil der Siedlungen liegt aber nicht im Talgrund, sondern 300 bis 400 m höher auf Geländestufen des sonnseitigen Talhanges. Die Schattseite hingegen besteht aus einem geschlossenen Waldgürtel ohne Siedlungen. Fahrzeugtaugliche Verbindungen zwischen den einzelnen Höhensiedlungen und zu den Talorten wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Bis dahin musste alles Notwendige auf dem Rücken getragen werden. Übrigens: Zur Zeit Reimmichls siedelten im Tal dank guter Wirtschaftslage um 40 Prozent mehr Menschen als heute.
Reisen war im Jahre 1867 noch recht beschwerlich. Von St. Veit in Defereggen nach Matrei in Ostttirol, lange Zeit Verwaltungs- und Gerichtssitz für das Defereggental, sind es 22 km, eine Strecke von vier Stunden Gehzeit, hin und zurück also acht Stunden. Sollte ein St. Veiter gar eine „Weltreise“ nach Brixen oder Innsbruck geplant haben, musste er gut zu Fuß sein. Als Reimmichl 1880 zum Studium nach Brixen aufbrach, nahm er den damals gewohnten – nämlich kürzesten – Weg über das Gsieser Törl (2205 m) ins Südtiroler Gsiesertal nach Welsberg, wo er nach acht Stunden (!) Fußmarsch den Zug durchs Pustertal besteigen konnte.
Der Eggerhof, Reimmichls Geburtshaus in St. Veit-Inneregg im Defereggental. 1962 wurde am Haus eine Gedenktafel angebracht.
(Foto: Lottersberger/Reimmichlmuseum, Hall)
Die Natur allein bestimmte den Lebensrhythmus im Defereggental. Die Arbeit war schwer, das Gottvertrauen groß, der karge Ertrag unsicher. So auch am Eggerhof in St. Veit, der mittleren Gemeinde des Hochtales. Dieses Anwesen liegt auf einem schmalen Geländeabsatz in der Fraktion Inneregg, eine halbe Stunde über der Talsohle und eine halbe Stunde von der Kirche St. Veit entfernt. Die Aussicht ist spärlich, denn auf der gegenüberliegenden Seite, jenseits des Talbaches, erhebt sich ein steiler, dunkler, felsdurchsetzter Berghang. Am Hof lebten drei Generationen der Familie Rieger unter einem Dach. Reimmichls Großvater hatte noch die Tiroler Freiheitskämpfe erlebt und erzählte dem kleinen Sebastian oft davon. Dr. Hans Brugger, Reimmichls Neffe und Biograf, war überzeugt, dass diese Geschichten, die der kleine Bub – er wurde allgemein „Wastl“ gerufen – von seinem Großvater hörte, einige der frühen Reimmichlgeschichten stark beeinflussten.
1827 wurde Johann Rieger, Reimmichls Vater, geboren. Er war Nebenerwerbsbauer, denn bereits in jungen Jahren zog er hinaus in die Fremde, um mit Decken, Teppichen und Hüten zu hausieren. Jeweils im Frühjahr und im Herbst schulterte er die Kraxe, um als Wanderhändler in der Fremde sein Glück zu versuchen. Damit trat er in die Fußstapfen vieler seiner Vorfahren, denn die Not zwang zahlreiche Deferegger bereits im 17. Jahrhundert zu einem Nebenerwerb. Dafür bot sich das Hausieren mit Waren aller Art an, zuerst in