p>
Benjamin Balint
Kafkas letzter Prozess
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Für Karina
2»Fanatische Verehrung«: Der Erste, der Kafkas Faszination erlag
6Letzter Sohn der Diaspora: Kafkas jüdisches Nachleben
7Die letzte Einsammlung: Kafka in Israel
8Kafkas letzter Wunsch, Brods erster Verrat
10Der letzte Zug: Von Prag nach Palästina
11Der letzte Seiltänzer: Kafka in Deutschland
14Die letzte Erbin: Ausverkauf Kafkas
1
Das letzte Rechtsmittel
Oberster Gerichtshof Israels, Schaarei-Mischpat-Straße 1, Jerusalem, 27. Juni 2016
Das Wort »sein« bedeutet im Deutschen beides: Da-sein und Ihm-gehören.
FRANZ KAFKA, »Zürauer Aphorismen«1
An einem Sommermorgen saß Eva Hoffe, 82, in der hohen Eingangshalle des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem auf einer blitzblank polierten geschwungenen Holzbank, die Hände im Schoß gefaltet. Eine der Freundinnen, die zu ihrer Unterstützung mitgekommen waren, vertrieb sich die Zeit bis zur mündlichen Verhandlung mit der Lektüre der Tageszeitung Ma’ariv. Evas Verhältnis zur Presse war eher distanziert; sie hasste die »Lügenmärchen« der Journalisten, die sie gern als exzentrische Katzenfrau und als Opportunistin darstellten und behaupteten, sie wolle mit wertvollen Kulturschätzen, die gar nicht in private Hände gehörten, schnelles Geld machen. Auf der Titelseite fiel Eva eine Schlagzeile in roten Großbuchstaben ins Auge. »Jetzt versteigern die sogar eine Haarlocke von David Bowie«, empörte sie sich. »Ja, als wäre es eine religiöse Reliquie«, erwiderte die Freundin.
An diesem Tag sollte über Kultgegenstände völlig anderer Art verhandelt werden. Drei Monate zuvor, am 30. März 2016, hatte Eva erfahren, dass das Oberste Gericht ihren Fall »aufgrund des großen öffentlichen Interesses« verhandeln wolle. Merkwürdigerweise fehlte die Sitzung auf der Liste der Gerichtstermine für diesen Tag. Auf der digitalen Anzeigentafel in der Eingangshalle stand nur »Anonym gegen Anonym«.
Eva war eine knappe Stunde zu früh gekommen; vielleicht hatte sie die Anzeigentafel gar nicht gesehen. Den Schutz der Anonymität mochte sie sich sogar wünschen, doch an diesem Tag blieb er ihr versagt. Ein bald neun Jahre währender Nachlassstreit näherte sich seinem Höhepunkt. Über die vorangegangenen Etappen des Prozesses, der mit juristischen, ethischen und politischen Problemen nur so gespickt war – die Verhandlungen vor dem Familiengericht Tel Aviv (September 2007 bis Oktober 2012) und vor dem Bezirksgericht Tel Aviv (November 2012 bis Juni 2015) –, hatte die israelische und internationale Presse ausgiebig berichtet. Von Anfang an war es in dem Disput um die Abwägung zwischen Eigentumsrechten und dem öffentlichen Interesse zweier Länder gegangen: Gehört der Nachlass des deutschsprachigen Prager Schriftstellers Max Brod Eva Hoffe oder der Israelischen Nationalbibliothek, oder wäre er am besten im Deutschen Literaturarchiv in Marbach untergebracht? Allerdings stand mehr auf dem Spiel als der Nachlass Max Brods, einer einstmals berühmten Gestalt der mitteleuropäischen Kultur. Denn Brod war Freund, Herausgeber und literarischer Nachlassverwalter eines anderen Prager Schriftstellers, dessen Name für die moderne Literatur schlechthin steht: Franz Kafka.
Brods Nachlass enthielt nicht nur seine eigenen Manuskripte, sondern auch Papiere Kafkas, einige empfindlich wie Herbstlaub. Dessen große Manuskripte, Briefe und Tagebücher waren zu diesem Zeitpunkt natürlich längst publiziert – laut Stefan Litt, dem Leiter des deutschsprachigen Archivs der Nationalbibliothek, gebe es »nichts von Kafka, das noch unveröffentlicht sei«. Doch waren noch nicht sämtliche Handschriften, Postkarten, Kritzeleien und ähnliche Originale in Archiven zugänglich. Das Besondere an diesen Papieren sei, so Litt, »die ›Aura‹ des Handschriftlichen«.2 Von Max Brods eigenen Aufzeichnungen allerdings – darunter seine frühen Tagebücher – versprachen sich Fachleute 92 Jahre nach Kafkas Tod neue Einblicke in die erstaunliche Welt des Schriftstellers, der einen unnachahmlichen, unverwechselbaren surreal-realistischen Stil entwickelt und für das 20. Jahrhundert prägende Texte über Orientierungslosigkeit, Absurdität und gesichtslose Tyrannei geschaffen hatte; der außergewöhnliche Fall eines Autors, aus dessen Namen ein Adjektiv abgeleitet wurde. Die unwahrscheinliche Geschichte, wie Kafkas Manuskripte in die Hände der Familie Hoffe gelangt waren, erzählt von einem noch unbekannten, aber genialen Schriftsteller, über dessen letzten Wunsch sich sein bester Freund hinwegsetzte; von dessen Flucht vor den nationalsozialistischen Besatzern, kurz bevor sich die Tore Europas schlossen; von der Liebe zweier Exilanten, die in Tel Aviv gestrandet waren; von zwei Ländern, deren wie besessen betriebene Vergangenheitsbewältigung an diesem Tag vor dem Obersten Gericht offen zutage trat. Der Prozess warf aber vor allem eine hochbrisante Frage auf: Wem gehört Kafka?
Eva, die sich nun also im Auge des Sturms wiederfand, war am 30. April 1934 in